Unmittelbar nach einer Sternstunde des österreichischen Fußballs war Teamchef Ralf Rangnick um eine sachliche Einordnung des Geschehenen bemüht. Seine Truppe hatte gerade die Niederlande 3:2 besiegt und die gemäß Weltrangliste schwierigste EM-Gruppe auf Rang eins abgeschlossen, da war die Frage unvermeidlich, ob man reif für den Titel sei. „Ich halte es nicht für sehr wahrscheinlich, dass wir Europameister werden“, antwortete Rangnick am Dienstag im Berliner Olympiastadion. Von den Fans allerdings zeigte sich der Teamchef berührt.
Der ÖFB-Auswahl war schon vor Turnierbeginn von internationalen Medien der Status eines Geheimfavoriten zugesprochen worden. Rangnick lässt das nach wie vor kalt. „Das hat überhaupt keine Auswirkungen auf unsere Spiele“, betonte der Deutsche. Auf Titelspekulationen wolle man sich nicht einlassen, man denke von Spiel zu Spiel. „Die Jungs sind ehrgeizig und wollen so weit wie möglich kommen.“
Ein weites Vordringen erscheint nicht nur aufgrund des Auftritts gegen „Oranje“ als durchaus möglich. Durch den Gruppensieg – den ersten bei einer Endrunde seit der WM 1978 – vermied Österreich jene Rasterhälfte, in der sich die Titelfavoriten Spanien, Deutschland, Portugal und Frankreich befinden. Auf diese vier Teams könnte man erst im Finale treffen.
Zunächst geht es aber einmal am Dienstag in Leipzig gegen den Zweiten aus Pool F, also entweder die Türkei, Tschechien oder Georgien. „Egal, was jetzt kommt, alle sind gute Gegner. Wir müssen sowieso immer auf dem obersten Level performen“, sagte Rangnick.
Rangnick „begeistert“ von seinem Team
Mit einem Auftritt wie gegen die Niederländer wäre der erstmalige EM-Viertelfinal-Einzug des Männer-Teams in der ÖFB-Geschichte machbar. „Wir sind brutal gut ins Spiel gekommen und hatten in den ersten 20 Minuten gefühlt 80 Prozent Ballbesitz“, meinte Rangnick. Das Gegentor zum 1:1 bald nach Wiederanpfiff sei „nicht besonders glücklich“ gewesen. Ein Fehler von Florian Grillitsch hatte den Treffer eingeleitet. „Das war ein untypischer Ballverlust von ihm“, erklärte Rangnick.
Wenige Minuten später bereitete Grillitsch das 2:1 durch Romano Schmid vor. „Es freut mich für ihn, dass er nach diesem Fehler das Zutrauen hatte, sich so einzuschalten und so einen Chipball zu spielen“, meinte der Coach. Generell sei er „beeindruckt“, wie seine Truppe auf den zweimaligen Ausgleich reagiert habe.
Rangnick hatte mit seiner Aufstellung überrascht, ließ er doch unter anderem die von einer Gelbsperre bedrohten Christoph Baumgartner und Konrad Laimer zunächst auf der Bank. Ein Grund dafür war das 1:1 am Vortag zwischen Kroatien und Italien – dadurch war klar, dass man sogar mit einer 0:4-Niederlage gegen „Oranje“ weiter gewesen wäre. „Wenn nicht in der letzten Minute das Tor der Italiener gefallen wäre, wären wir wahrscheinlich mit einer anderen Mannschaft gestartet“, erzählte Rangnick.
Wimmer muss zuschauen
So entschied sich der Nationaltrainer zu insgesamt vier Umstellungen im Vergleich zum 3:1 gegen Polen, was sich als Glücksgriff herausstellen sollte. „Wir haben eine ziemlich unerwartete Aufstellung gewählt. Im Nachhinein haben sich diese Gedanken gelohnt. Wir konnten mit dieser Formation von Anfang an ‘all in‘ gehen.“
Mit Marko Arnautovic, Maximilian Wöber und Patrick Wimmer beorderte Rangnick lediglich drei der insgesamt sieben gefährdeten Kicker in die Startelf. Nur Wimmer sah Gelb und muss damit im Achtelfinale zuschauen. „Für mich war klar: Wenn wir gewinnen wollen, dürfen wir von Anfang an keine Rücksicht auf Gelbe Karten nehmen. Wenn ich einem Konrad Laimer sage, er soll keine Gelbe riskieren und er hält sich zurück, brauche ich ihn erst gar nicht aufzustellen.“ Baumgartner habe zudem leichte Knieprobleme verspürt, berichtete der Teamchef.
Das, was wir spielen, passt optimal zu den Spielern, und darum geht es im Endeffekt.
Ralf Rangnick
Die neu in die Mannschaft gekommenen Spieler erledigten ihre Aufgabe mit Bravour. Rangnick: „Das Spiel hat die Erkenntnis gebracht, dass die Breite unseres Kaders doch ein bisschen größer ist, als alle gedacht haben, inklusive mir selbst.“ Mit diesem Kader gelang der Gruppensieg vor Vizeweltmeister Frankreich – dabei hatte Rangnick noch am Vortag erklärt, er würde Endrang eins für „nicht sehr wahrscheinlich“ halten. „Ich bleibe dabei: Die Wahrscheinlichkeit, dass wir gewinnen und Frankreich nicht gegen Polen gewinnt – wer da drauf getippt hätte, wäre jetzt wahrscheinlich ein reicher Mann oder eine reiche Frau. Das Schöne am Fußball ist, dass solche Dinge passieren und wir für unseren mutigen und energiegeladenen Auftritt belohnt wurden.“
Stadion ist bekannt
Nach dem Auftakt-Duell mit Frankreich hatte wenig bis gar nichts für Platz eins gesprochen. „Wir sind mit einem 0:1 gestartet und hatten dann vor dem Polen-Spiel großen Druck. Dass es dann am Ende zum Gruppensieg gereicht hat, ist unglaublich“, erklärte Rangnick, der seine Truppe nun eine Woche lang auf das Achtelfinale vorbereiten kann. „Das hat fast Bundesliga-Charakter“, sagte der bald 66-Jährige über die lange Pause.
Die Anreise nach Leipzig wird mit dem Bus erfolgen. Das minimiert die Gefahr von unliebsamen Überraschungen wie vor dem Frankreich-Match, als der Flug nach Düsseldorf Verspätung hatte. Selbst der Dienstag-Trip vom Berliner Mannschaftshotel ins Olympiastadion verlief nicht reibungslos – ein den Bus begleitender Polizist wurde auf seinem Motorrad von einem Auto angefahren, dabei aber nicht schwer verletzt.
Der bevorstehende Aufenthalt in Leipzig sei „für einige eine Reise in ihre alte Heimat, für einige sogar in ihre aktuelle“. Baumgartner und Nicolas Seiwald sind derzeit bei RB Leipzig engagiert, andere wie etwa Laimer, Marcel Sabitzer oder auch Rangnick selbst waren jahrelang für die Sachsen tätig.
Statistik spricht für Rangnick
In Leipzig wird auf jene Spielweise Wert gelegt, die auch das ÖFB-Team kennzeichnet. Mit dem Begriff „Red-Bull-Fußball“ kann Rangnick jedoch nach eigenen Angaben wenig anfangen. „Das macht nicht wirklich Sinn, denn wir investieren auch viel Zeit dafür, was wir mit dem Ball zu tun haben. Das, was wir spielen, passt optimal zu den Spielern, und darum geht es im Endeffekt.“
Die Fans dankten es mit inbrünstigem Grölen von „I am from Austria“, das vor über einem Jahr lancierte ÖFB-Lied „Hoch gwimmas (n)imma“ spielt bestenfalls eine untergeordnete Rolle. „Ich finde diesen Song nach wie vor cool, weil er den Schmäh laufen lässt und sich selbst auf originelle Weise auf die Schippe nimmt. Aber wenn 25.000 oder 30.000 ‘I am from Austria‘ singen, finde ich das noch authentischer und passender zur Mannschaft“, meinte Rangnick.
Während das ÖFB-Team zu den Klängen von Rainhard Fendrich mit den Fans feierte, nahm Rangnick auf der Ersatzbank Platz. „Ich wollte mich einfach ein bisschen ausruhen“, erzählte der Trainer.
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