Hip-Hop, Indie, Pop

Lido Sounds: Triumphzug der deutschen Pop-Queen

Musik
30.06.2024 01:10

Tag drei am Lido Sounds. Aufgrund der brütenden Hitze und des üppigen Programms schwinden langsam die ersten Kräfte unter den Fans. Trotz allem haben sich am Samstag rund 23.000 von Acts wie Nina Chuba, Kraftklub oder Bibiza aus dem Alltag holen lassen – und feierten freudig-exaltiert.

(Bild: kmm)

Im Juli 1913 wurden im amerikanischen Death Valley 56,6 Grad gemessen. Etwas mehr als 100 Jahre später scheint das Gebiet durch tektonische Plattenverschiebungen von Kalifornien/Nevada nach Linz verrutscht zu sein, denn am dritten Tag des Lido Sounds muss man wirklich mit allen Tricks kämpfen, um nicht mit dem knallhart reflektierenden Betonboden zu verschmelzen. Wasserdurchtränkte Kappen, hitzeresistente Folien am Gatter vor der Bühne, Handtücher und T-Shirts, die wie ein Turban über die Köpfe gewickelt werden – bis zum späten Nachmittag probieren die Musikenthusiasten an der Linzer Donaulände alles, um nicht in Flammen aufzugehen. „Ich hoffe, ihr habt alle was zu trinken. Es ist sauheiß hier“, stellen die Cousines Like Shit als erste Band auf der Hauptbühne fest und ernten dafür gleich ein „Na was’d net sagst“ aus den noch spärlich gefüllten Publikumsreihen.

Das Salzburger Gespann Laura und Hannah Breitfuß aka Cousines Like Shit spielte auf seiner bislang größten Bühne.  (Bild: Andreas Graf)
Das Salzburger Gespann Laura und Hannah Breitfuß aka Cousines Like Shit spielte auf seiner bislang größten Bühne. 

Spaß in der Gluthitze
Mit ihrem Debütalbum „Avant Trash“ überzeugte das Salzburger Cousinen-Duo Hannah und Laura Breitfuss letztes Jahr nicht nur Freunde der ursprünglichen Gitarrenmusik. Trotz Liveband wird die überdimensionale Bühne ein bisschen zu opulent, aber mit cooler Sonnenbrille und lässiger Haltung überwindet man etwaige Unsicherheiten souverän. Songs wie „Vivid Sassy“, „Young And Online“ oder das feministische „Barbie“ gleiten gut über das Gelände. Auch nach dem Auftritt zeigten sich die beiden vom Ambiente angetan. „Es war wirklich unheimlich heiß, aber es hat riesengroßen Spaß gemacht“. Das Essen für die Bands scheint auch am dritten Tag noch immer Eindruck zu schinden, auch die Cousines Like Shit zeigten sich davon hellauf begeistert und genießen den restlichen Tag.

Funk und Rap als Einleitung in den Tag: Das Wiener Kollektiv Hidden Gemz rund um Didier Kurazikubone. (Bild: Andreas Graf)
Funk und Rap als Einleitung in den Tag: Das Wiener Kollektiv Hidden Gemz rund um Didier Kurazikubone.

Eröffnet wurde der dritte Tag auf der Second Stage schon etwas früher von der Wiener Funk-Rap-Band Hidden Gemz, die erst unlängst das Wiener Flex bis auf den letzten Platz füllte. Mit ihrer Mischung aus Rage Against The Machine, Old-School-Rap und einer gehörigen Dosis Funk begeistern sie die Menge vom ersten Moment an. Besonders intensiv lebt Frontmann Didier Kurazikubone den Auftritt und agiert bereits wie ein Großer. Die Kommunikation mit den Bandkollegen funktioniert erstaunlich souverän. Klar ist, dass die Band für mehr bestimmt ist.

Beim deutschen Weltmusik-Gespann Bukahara war trotz der Politik auch viel Platz für Liebe und Gemeinschaft. (Bild: Andreas Graf)
Beim deutschen Weltmusik-Gespann Bukahara war trotz der Politik auch viel Platz für Liebe und Gemeinschaft.

Brutale Voraussetzungen
Die Bühnen bestehen an diesem Tag ausschließlich aus österreichischen und deutschen Acts, dementsprechend nervös ist die Stimmung im Backstage-Bereich, steht doch das EM-Achtelfinale zwischen Deutschland und Dänemark später am Tag an. Auf der Bühne zeigen sich die Acts davon unbeeindruckt. Stilvermischungen gehören zum guten Ton. Paula Carolina überzeugt mit einer Mischung aus Rap, Pop und eine Punk-Attitüde, während die Kölner Bukahara ihren auf afrikanische Klänge basierenden Grundsound mit sehr viel Tages- und Sozialpolitik würzen und damit die Lido-Schiene, dem Eskapismus auch eine Portion reale Weltstimmung beizumengen, fortführt. Währenddessen gibt der Mainzer Rapper OG Keemo mit seinem Produzenten Funkvater Frank eine Kostprobe seiner Kunst, die ihn Deutschland heuer schon an die Spitze der Charts führte. Das alles unter brutalen Voraussetzungen: Die Hitze macht nämlich allen zu schaffen.

Erfolgsrapper, der derzeit in Deutschland total durch die Decke geht: OG Keemo. (Bild: Andreas Graf)
Erfolgsrapper, der derzeit in Deutschland total durch die Decke geht: OG Keemo.

Die geheimen Highlights finden an diesem Samstag auf der „Ahoi! Summer Stage“ statt. Wer sich mittags in Bühnennähe gerade am sommerlichen Fitnesssalat labt, verschluckt sich möglicherweise an verbalen Tiefschlägen der Marke „Fotzen“ oder „Analsex“. In dieser Art rappt sich die Berlinerin Ikkimel durch ein trashiges Ballermann-Elektro-Gedöns, das eine erkleckliche Anzahl an Schaulustigen vor die Bühne lockt, die großteils durch die am Eingang verteilte Sonnencreme geschützt sind. Den „Fotzenstyle“, wie Ikkimel ihren Sound nennt, exerziert sie knapp bekleidet, in unzweideutigen Posen und mit derber Sprachästhetik. Mit Songs wie „Aszendent Bitch“, „Bikini Grell“ oder „Keta und Krawall“ bewegt sie sich gesanglich in genau jenen Sphären, vor der Eltern zitternd und sich bekreuzigend warnen. Ungeniert geht es um Sexualpraktiken, Koks-Lines und Party.

Ist das noch Kunst? Das Trash-Techno-Rap-Perversum Ikkimel verwandelte die Mittagszeit in ein akustisches Pornokino. (Bild: Andreas Graf)
Ist das noch Kunst? Das Trash-Techno-Rap-Perversum Ikkimel verwandelte die Mittagszeit in ein akustisches Pornokino.

Niveaulimbo an der Donaulände
Im Song „Fußballmänner“ kriegen – rechtzeitig zum ersten Achtelfinal-Tag der EM – auch ebenjene ihr Fett ab. „Sind hier irgendwelche Fußballmänner?“, fragt Ikkimel launig ins Areal, um gleich die weiteren Schritte vorzuschlagen, „Mädels, wegfotzen die Alten“. Einen noch unveröffentlichten Song kündigt sie mit „Wellness ist mein viert liebstes Hobby, nach Musikmachen, Ficken und Party“ an. Die feine Klinge ist woanders gelagert, für Jugendfreies sollte man lieber das Donauufer wechseln. Wer den Niveaulimbo aber nicht allzu ernst nimmt und sich einfach mal fallen lassen möchte, ist bei der derben Maid aus Tempelhof goldrichtig. Im Direktvergleich zu ihr wirkt Asi-Rapper Finch fast wie ein designierter Staatsoperndirektor. Merke: Nach unten gibt es niemals Grenzen.

Rund 23.000 Fans feierten bei rekordverdächtigen Temperaturen am dritten Tag des Lido Sounds. (Bild: Andreas Graf)
Rund 23.000 Fans feierten bei rekordverdächtigen Temperaturen am dritten Tag des Lido Sounds.

Wer für sein Niveauverständnis lieber mit der Schaufel nach unten gräbt, der ist am dritten Festivaltag goldrichtig. Mit der Anarcho-Rap-Gruppe K.I.Z. gibt es noch eine Runde Berliner Schnauze, die sich in ihrer Artikulation gerne in tiefliegende Gefilde begibt. Die zwischen Satire, Politkritik und purer Provokation mäandernden Texte kann man als eine halbintelligente Grobversion von Deichkind deuten. Die drei Rapper Tarek, Maxim und Nico lassen gerne simple Beats ballern und verzieren diese mit ruppigen Songs wie dem semi-autobiografischen „Urlaub fürs Gehirn“, „Ich ficke euch (alle)“ oder dem unzweideutigen „Unterfickt und geistig behindert“. Neuere Songs wie „Applaus“, „Frieden“ oder „Sensibel“ vom taufrischen deutschen Nummer-Eins-Album „Görlitzer Park“ zeigen sich reifer und durchdachter. So gelingt dem Hauptstadt-Kollektiv eine schöne Mischung aus Anarcho-Chic und nachdenklicher Gesellschaftskritik. Ein schmaler Grat, an dem man aber ganz gut entlang balanciert.

Etablierte Provokateure: Die Berliner Electro-Rap-Formation K.I.Z. kann sich auf ein begeistertes Stammpublikum verlassen. (Bild: Andreas Graf)
Etablierte Provokateure: Die Berliner Electro-Rap-Formation K.I.Z. kann sich auf ein begeistertes Stammpublikum verlassen.

Das große Jahr naht
Ein heimlicher Headliner auf der „Ahoi Pop Stage“ war kurz davor Wiens Durchstarter Bibiza, der unlängst auch berechtigterweise einen Amadeus für „Eine Ode an Wien“, den „Song des Jahres“, einsackte. Beeindruckend sind nicht nur die Lieder, sondern auch die Tatsache, dass der Frontmann der Hitze mit Feuereffekten, einer langen Lederhose und pechschwarzem Harley-Davidson-Shirt trotzt. Die Wiener Schickeria-Hymnen kommen auch in Linz gut an, was ein weiterer Baustein auf dem Weg zum globalen Erfolg ist, der hier wohl anvisiert wird. Mit „Höhenstraße“, „Opernring Blues“ und einer neuen Nummer erobert er die Herzen der Fans, bei „Femme Fatale“ gehen alle in die Knie und lassen sich vom Beat treiben. Die voreiligen Falco-Vergleiche schüttelt Bibiza mit jedem neuen Gig weiter ab und emanzipiert sich damit zu einer echten Marke. 2025 wird das große Jahr werden – der Boden ist bereitet.

Mehr Wien geht nicht: Durchstarter Bibiza lieferte trotz sengender Hitze eine fulminante Pop-Show ab. (Bild: Andreas Graf)
Mehr Wien geht nicht: Durchstarter Bibiza lieferte trotz sengender Hitze eine fulminante Pop-Show ab.

Der deutsche Rapper Montez hat den Sprung zum Superstar längst geschafft. Mit seinen beiden letzten Album „Herzinfucked“ und „Liebe in Gefahr“ wurde zu einem breitenwirksamen Künstler, der auch in Österreich größere Hallen füllt. Montez‘ Version von Rap ist mit viel Gesang und songwriterischem Gestus durchzogen. Während ansonsten vorwiegend die dicke Hose regiert, zeigt sich der Bielefelder mit spanischen Wurzeln emotional, nahbar und offen. So ziert nicht nur ein überdimensionales zerbrochenes Herz den Bühnenrücken, sondern ist auch die Balladendichte ziemlich hoch. Songs wie „Immer wenn ich gehen will“, „Fieber“ oder „Besser“ künden von der Liebe mit allen ihren Vor- und Nachteilen, Rückschlägen und Verwirrungen. Stimmlich ist Montez aber zumeist limitiert und ein Instrument beherrscht er auch nicht, doch man merkt den Songs die Ehrlichkeit des Interpreten an. Authentizität gewinnt am Ende immer.

Der Bielefelder Rapper Montez präsentiert Herzschmerz- und Liebessongs mit vielen Eingriffen in das eigene Leben. (Bild: Andreas Graf)
Der Bielefelder Rapper Montez präsentiert Herzschmerz- und Liebessongs mit vielen Eingriffen in das eigene Leben.

Wer ist wieder da?
Ein ganz anderes Live-Kaliber ist da Nina Chuba, der erst vor knapp zwei Monaten den randvollen Wiener Gasometer zum Ausflippen brachte. Ihrem 2022er-Sommerhit „Wildberry Lillet“ ist sie längst entwachsen, die Charts und Radios dominiert sie spielerisch und ihre Fans kommen längst aus allen Generationen. Beim Lido gibt es „Nina“-Taferln von Kindern, die einen perfekten ersten Ferientag genießen. Ein genauerer Blick zeigt aber auch, dass der Herr Papa bei „Tracksuit Velours“ textsicher ist. Nina erscheint markant, mit den zwei Haarzöpfen in grün gewandet und auf einer schrägen Stegbühne. Die neue Erfolgssingle „NINA“ leitet kräftig in ein Set, das die Wandelbarkeit der Künstlerin an einem Abend perfekt zusammenfasst. Es reihen sich Klassiker wie „Mangos mit Chili“ an neuen Songs wie „80qm“ oder sanfte Balladen wie „Glas“. Dazu gibt es Songs gegen Depressionen („Nicht allein“) und andere, bei denen sie im Publikum sogar einen Moshpit eröffnet („Randali“). Dancehall, Pop, Reggae – alles dabei.

Wer ist wieder da? Nina, Nina, Nina – Fräulein Chuba ist derzeit das Spannendste, was der deutsche Pop zu bieten hat. (Bild: Andreas Graf)
Wer ist wieder da? Nina, Nina, Nina – Fräulein Chuba ist derzeit das Spannendste, was der deutsche Pop zu bieten hat.

Chuba gelingt es auch im Festivalkorsett mühelos zwischen sorglosem Aufbruch und innerer Einkehr zu changieren. Dazwischen fährt sie eine rein weibliche Bläsersektion auf, die für eine angenehme Entschlackung und feine Zwischentöne sorgt. Sie interagiert geschickt mit den Fans, lobpreist die Ruhe bei den Linzer Seen, die sie vor ihrem Auftritt genoss und erzählt entspannt von ihrem rasanten Karriereaufstieg und den Pausen, die dazwischen notwendig sind, um die nötige Kraft für Neues zu tanken. Nach einem Tag voller politischer Unkorrektheiten und niveauarmer Entgleisungen tut diese musikalisch versierte, vielseitige und durchdachte Show mehr als gut. Nina Chubas Aufstieg schreitet unaufhaltsam voran – eine knallvolle Second Stage in Linz ist der beste Beweis dafür.

Teilweise schon in Würde ergraut – die Chemnitzer Indie-Punk-Rabauken Kraftklub machen es nicht unter „extrem explosiv“. (Bild: Andreas Graf)
Teilweise schon in Würde ergraut – die Chemnitzer Indie-Punk-Rabauken Kraftklub machen es nicht unter „extrem explosiv“.

Der etwas andere Tag
Abgeschlossen wird der dritte Tag mit den Publikumslieblingen von Kraftklub, die in ihren klassischen Uniformen und mit einer ausufernden Show ein weiteres Mal für Begeisterung sorgen. Frontmann Felix Brummer stellt schon früh im Konzert klar, dass in den Moshpits kein Platz für Grabschen ist und die Band spricht sich aktiv gegen Homophobie und Rassismus aus. An einem Ort der Gemeinschaft wie dem Lido Sounds kommen solche Botschaften besonders gut an. Vor allem dann, wenn die Mischung aus explosivem Pop, Punk, Indie-Sounds und Rock auch musikalisch für ein dickes Ausrufezeichen sorgt. „In meinem Kopf“, „Meine Fans“, der Ohrwurm „Berlin“, „Randale“ oder das unverzichtbare „Songs für Liam“ sorgen für einen würdigen Abschluss des „etwas anderen“ Tages am Lido Sounds. Abgeschlossen wird der viertägige Reigen heute u.a. mit Superstar Sam Smith, den Libertines, den Idles, den Hives oder Lokalmoderatorin Soap & Skin.

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