Die Schiffspassage hätte eine Reise ins Exil werden sollen - weg vom exotischen Indien in das ferne Kanada. Und Piscine Molitor Patel, von allen nur Pi genannt, war in tierisch-illustrer Gesellschaft unterwegs. Aufgewachsen in Pondicherry als Sohn eines Zoo-Besitzers, hatte er seine ganz eigenen Ansichten über die menschliche und tierische Natur entwickelt und trieb nun gemeinsam mit Zebras, Wildkatzen, Nilpferden und anderen Tieren auf offener See...
Und dann kam sie, die Sturmfront, bleiern und bedrohlich und wühlte das Meer auf, bis dieses den japanischen Frachter mit all seinen Passagieren verschlang. Nur zwei in einem Rettungsboot sollten überleben: der indische Junge Pi - und ein furchteinflößender bengalischer Tiger mit dem exquisiten Namen Richard Parker, von dem Pis Vater einst gesagt hatte: "Der Tiger ist nicht dein Freund. Menschen, die das vergessen, werden getötet!" Der Beginn einer 227-tägigen Odyssee, die vom Zorn der Naturgewalten und zugleich von der Schönheit des Ozeans erzählt - mit seinen Schwärmen fliegender Fische, die durchs Bild prasseln wie ein Wolkenbruch.
Für Ang Lee ist nichts unverfilmbar
"Life of Pi", die Geschichte eines Überlebenskampfes, verfasst von Yann Martell, ist eines der größten Literaturereignisse des vergangenen Jahrzehnts. Der 2001 erschienene Roman "Schiffbruch mit Tiger" wurde mit dem renommierten Man Booker Price ausgezeichnet und in 42 Sprachen übersetzt. Kino-Magier Ang Lee fügt mit seiner atemberaubenden Verfilmung eine 43., universelle Bildsprache hinzu - und das, obwohl der spirituelle Besteller, obschon sehr visuell geschrieben, lange Zeit als unverfilmbar galt. Wie Ang Lee die philosophische Essenz dieser abenteuerlichen Fabel destilliert und scheinbar schwerelos in die dritte Dimension hievt, macht ihm keiner nach.
Was nicht verwundert, ist Lee doch ein zigfach preisgekrönter Meister der Regie, der neben filmischen Seitensprüngen ins Martial-Arts-Genre wie "Crouching Tiger, Hidden Dragon", der Comic-Verfilmung "Hulk" oder sensationellen Ausflügen ins Biographische wie "Taking Woodstock" vor allem mit stimmigen Adaptionen literarischer Kost wie Jane Austens "Sense and Sensibility", Rick Moodys "The Ice Storm", Eileen Changs "Lust, Caution" - und Oscar-gekrönt - Annie Proluxs "Brokeback Mountain" Filmgeschichte schrieb.
Menschen in Ausnahmesituationen sind seine Passion und in "Life of Pi", einem Film, der ohne Stars auskommt, weil sein Star - wie der geneigte Leser des Buchs ja weiß - die perfekte Illusion ist, treibt der sein Spiel mit zauberischen Unwahrscheinlichkeiten auf die Spitze, jedoch mit der richtigen Balance aus magischem Realismus und trügerischer Wahrhaftigkeit.
Newcomer in der Hauptrolle
Gespielt wird der wagemutige Protagonist von dem indischen Newcomer Suraj Sharma, einem Naturtalent, der die Tiefsinnigkeit des Stoffes intuitiv erfasste. Zu Beginn der Dreharbeiten in Taiwan konnte er noch nicht schwimmen und hatte auch noch nie den Ozean gesehen, auch wenn die meisten Aufnahmen in einem vollmechanischen Wassertank stattfanden - in ähnlicher Manier, wie dies der Fall bei der "Titanic"-Filmproduktion war.
Auch Tierschützer dürfen beruhigt sein, ist doch Pis Gefährte, der majestätische Tiger, größtenteils ein Geschöpf modernster Computer-Animation. Hunderte Stunden Videoaufzeichnungen lieferten dem Visual-Effects-Team unschätzbare Anhaltspunkte für die täuschend lebendige, authentische Kreatur. Nach "Avatar" und "Planet der Affen: Prevolution" macht die Filmtechnologie hier erneut einen gewaltigen Sprung. Was bleibt, ist in Schwebe gehaltenes Staunen...
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