Experten klagen an

Schlechte medizinische Versorgung unserer Kinder

Gesund
11.07.2024 16:30

Einen Kinderarzt mit Kassenvertrag zu finden, wird für viele Eltern zum Spießrutenlauf. Auf OP-Termine müssen Kinder mit HNO-Problemen ein Jahr warten. Nur zwei Beispiele dafür, dass die Versorgung der Jüngsten im Argen liegt. Was ist los in Österreich? Darüber diskutierten Experten auf einer Pressekonferenz.

Es wird für Familien immer schwieriger einen Kinderarzt mit Kassenvertrag zu finden, insbesondere im ländlichen Bereich. In Niederösterreich ist etwa jede vierte Stelle unbesetzt, in Oberösterreich jede sechste. In einigen Bezirken gibt es gar keine Kinderärzte mit Kassenvertrag mehr, sodass die Eltern sehr lange Anfahrtswege auf sich nehmen müssen. Und hat man dann doch einen gefunden, heißt es nicht selten: Aufnahmestopp!

Denn bereits mehr als die Hälfte (54%) der Kassenmediziner für Kinder- und Jugendheilkunde in Wien kann aufgrund der Auslastung keine neuen Patienten aufnehmen. Nur einige der erschreckenden Fakten, die Experten heute auf einer Pressekonferenz präsentierten – und die vor allem Eltern sprachlos machen.

„Sowohl die jeweiligen Gesundheitsangebote als auch die Kassenfinanzierungen sind in Österreich regional sehr ungleich verteilt. Es zeigt sich ein regelrechter ,Fleckerlteppich‘. Die Angebote sind zumeist nicht am Bedarf orientiert, sondern historisch gewachsen“, ergänzt Dr. Caroline Culen, Geschäftsführerin der Österreichischen Liga für Kinder- und Jugendgesundheit. Vor allem hinsichtlich der psychischen Versorgung gäbe es schwere Defizite.

Familien mit chronisch kranken Kindern haben es besonders schwer
Nach wie vor bestehe darüber hinaus ein massiver Mangel an kostenfreien Diagnose- und Therapieplätzen für Kinder mit chronischen Erkrankungen oder Entwicklungsverzögerungen. Nur eines von drei Kindern bekommt eine Therapie ganz oder teilweise von der Sozialversicherung finanziert, wurde berichtet.

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Wir bräuchten hierzulande sechsmal so viele Logopäden und siebenmal so viele Ergotherapeuten, die ihre Leistungen mit den Sozialversicherungen verrechnen.

Prim. Dr. Sonja Gobara, Obfrau der Politischen Kindermedizin

„Wir bräuchten im Vergleich zur Versorgung in Deutschland sechsmal so viele Logopäden und siebenmal so viele Ergotherapeuten, die ihre Leistungen mit den Sozialversicherungen verrechnen“, erklärte Prim. Dr. Sonja Gobara, Obfrau der Politischen Kindermedizin, einem Verein von Kinder- und Jugendmedizinern.

„In Anbetracht der Zeitfenster, etwa für die Sprachentwicklung, ist das, mit allen Auswirkungen auf den Bildungsweg der Kinder, schlichtweg unzumutbar“, ergänzt sie.

Verbesserungsbedarf gibt es auch in den sozialpädiatrischen Ambulatorien, in denen Kinder mit komplexen Entwicklungsverzögerungen und chronischen Erkrankungen und/oder Beeinträchtigungen betreut werden. Diese Ambulatorien sind ohne Planung und Steuerung über das gesamte Bundesgebiet verstreut, haben aber bei weitem nicht die erforderlichen Kapazitäten, oft auch Wartelisten für die unterschiedlichen Therapien oder sogar generelle Aufnahmesperren, kritisieren die Experten.

Unterversorgung auch im psychosozialen Bereich
Schlimm ist die Situation auch im psychosozialen Bereich (Psychiatrie, Psychologie, Psychotherapie): Dort bestünde eine Unterversorgung durch lückenhafte Versorgungsstrukturen in ländlichen Gebieten und die fehlende Kostenübernahme durch die Sozialversicherung im niedergelassenen Bereich.

Eine Befragung der Kinderliga aus dem Jahr 2022 zeigte, dass der Bedarf an psychosozialer oder therapeutischer Betreuung laut 79% aller befragten Psychotherapeuten und klinischen Psychologen das aktuelle Angebot um 45% übersteigt. Die durchschnittliche Wartezeit für eine solche Behandlung betrug zum Befragungszeitpunkt rund 3,8 Monate.

Familien mit niedrigem Einkommen klar im Nachteil
Wer es sich leisten kann, geht mit seinem Kind zu einem Wahlarzt oder -therapeuten und erhält auf diese Weise rascher einen Platz. „Das stellt aber für viele Familien eine unüberwindbare Hürde dar und widerspricht einer gesundheitlichen Chancengleichheit und -gerechtigkeit“, kritisiert Dr. Caroline Culen, Klinische- und Gesundheitspsychologin, Geschäftsführerin Österreichische Liga für Kinder- und Jugendgesundheit sowie Vorstandsmitglied Berufsverband Österreichischer Psychologen (BÖP).

Prim. Gobara ergänzt: „Die Restkosten bei Therapien im niedergelassenen Bereich, bei Hilfsmitteln, Heilbehelfen, bei wahlärztlichen oder wahltherapeutischen Honoraren erschweren für Kinder und Jugendliche aus ökonomisch schwachen Familien den Zugang zu Gesundheitsleistungen.“

Kein Kindergarten für chronisch Kranke?
Alleine in Wien können derzeit 1400 Kinder wegen einer Behinderung oder chronischen Erkrankung nicht in einen Kindergarten gehen – auch nicht im verpflichtenden Kindergartenjahr, auf das sogar ein Rechtsanspruch besteht. „Häufig werden Kinder mit einer Behinderung oder einer chronischen Erkrankung nicht in den Kindergarten aufgenommen, weil sich niemand findet, der notwendige medizinische oder pflegerische Handgriffe übernehmen möchte, obwohl die Haftungsfrage längst geklärt ist“, berichtet Dr. Irene Promussas, Pharmazeutin und Obfrau Lobby4Kids.

Hoffnung sieht sie in der Kompetenzstelle für Inklusion, welche die MA 10 in Wien einrichten möchte. Ab Herbst 2024 soll es zudem Fördergeld und Personal geben, sobald in einer Kindergartengruppe zwei oder mehr betroffene Kinder aufgenommen werden sollen.

In den vergangenen Jahren gab es zwar Bemühungen zahlreicher Organisationen und Institutionen zur Verbesserung der Kindergesundheit – diese führten allerdings bisher nur zu Teilerfolgen.

Forderungen der Experten
Daher wurde nun die österreichweite Kampagne #besserbehandelt.at vorgestellt, die auf die, zum Teil nach wie vor gravierenden, Mängel in der Versorgung von Kindern und Jugendlichen in Österreich aufmerksam machen soll. „Wir fordern eine zukünftige Bundesregierung auf, ihre Verantwortung wahrzunehmen und eine kostenfreie, flächendeckende, ausreichende Versorgung ohne Diskriminierung von Kindern mit Behinderung oder chronischer Erkrankung oder aus finanziell schwachen Familien zu sichern!“, appellierte Prim. Gobara.

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