Türkis-Grün uneins

Erster Minister schließt sich Ungarn-Boykott an

Politik
16.07.2024 12:22

Die türkis-grüne Koalition hat noch keine einheitliche Linie gefunden, wie man auf die Alleingänge der ungarischen Regierung im Rahmen der von Ministerpräsident Viktor Orbán als „Friedensmission“ bezeichneten Besuche in Moskau und Peking reagieren soll. Ein rot-weiß-roter Minister hat sich aber bereits dem von Brüssel ausgerufenen Boykott Ungarns angeschlossen.

Wie berichtet, hatte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Montag angekündigt, dass an künftigen informellen Ministertreffen unter der Leitung der derzeitigen EU-Ratspräsidentschaft in Ungarn keine Kommissarinnen oder Kommissare, sondern nur ranghohe Beamte teilnehmen werden. Außerdem verzichtet die EU-Kommission auf den traditionellen Antrittsbesuch bei der ungarischen Präsidentschaft, wie ein Sprecher mitteilte.

Die Regierung von Karl Nehammer hat sich noch nicht auf eine einheitliche Linie bezüglich Ungarn einigen können. (Bild: APA/AFP/Ludovic MARIN)
Die Regierung von Karl Nehammer hat sich noch nicht auf eine einheitliche Linie bezüglich Ungarn einigen können.

Rauch will „klare Kante“ zeigen
Diesem Aufruf will Gesundheits- und Sozialminister Johannes Rauch folgen, wie der grüne Ressortchef am Dienstag am Rande eines Termins ankündigte. Es sei „inakzeptabel“, dass Orbán nach Moskau reiste. „Ich habe für mich entschieden, zu diesen Räten (Ministerräten unter ungarischer Präsidentschaft, Anm.) nicht zu fahren“, stellte Rauch klar. Dies sei seine „persönliche politische Entscheidung“, sagte er auf die Frage, ob dieses Vorgehen innerhalb der Regierung abgestimmt sei. „Man muss klare Kante zeigen“, denn es sei durch Orbán „eine Grenze überschritten worden“.

Minister Johannes Rauch: „Orbán hat eine Grenze überschritten.“ (Bild: APA/EVA MANHART)
Minister Johannes Rauch: „Orbán hat eine Grenze überschritten.“

Zur Frage, ob man Ungarn das Stimmrecht im Rat der EU entziehen sollte, wie es 63 EU-Abgeordnete in einem Brief an die EU-Institutionsspitzen gefordert hatten, sagte Rauch, dies müsse in Europa entschieden werden. Es gehe um eine „konsequente Haltung Ungarn gegenüber“ – eine solche sei nötig, ließ er aber Sympathien für diese Idee durchklingen.

Brunner und Kocher zurückhaltender
ÖVP-Finanzminister Magnus Brunner, der als möglicher Kandidat für den Posten des nächsten EU-Kommissars gilt, sagte am Dienstag in Brüssel, er habe „natürlich Verständnis für die Europäische Kommission, hier ein Zeichen zu setzen“. Bei den Vorgängen der letzten Tage und Wochen handle es sich um bilaterale Besuche, so Brunner in Hinblick auf Orbáns umstrittene Reisen. 

Auf der anderen Seite ginge es um die Zukunft Europas. Und er geht davon aus, dass auch Ungarn die europäische Idee ganz vorne anstellen werde, so Brunner weiter. Es gehe darum, die drängenden Probleme der Europäischen Union wie etwa die Wettbewerbsfähigkeit voranzubringen und auch mit dem ungarischen Vorsitz weiter zusammenzuarbeiten. Ob er selbst zu dem informellen Treffen der Finanzminister fahren wird, ließ sich Brunner offen. Die Bundesregierung werde eine gemeinsame Linie diskutieren. 

Die EU-Staaten und die Kommission betonen: Viktor Orbán handelte bei Kremlchef Wladimir Putin nur im Namen Ungarns und nicht als EU-Vertreter. (Bild: AFP/Pool/Valery Sharifulin)
Die EU-Staaten und die Kommission betonen: Viktor Orbán handelte bei Kremlchef Wladimir Putin nur im Namen Ungarns und nicht als EU-Vertreter.

Zurückhaltender als Rauch äußerte sich auch Wirtschaftsminister Martin Kocher (ÖVP): Dass Orbán einen bilateralen Besuch durchführt, sei in Ordnung – es sei klar, „dass das bilateral war, nicht im Auftrag der EU“. Zur Frage, ob er an Räten teilnehmen werde, übte sich Kocher in Zurückhaltung: Dies hänge immer vom Terminplan ab. Zur Frage des Stimmrechtsentzugs verwies der Minister auf die Möglichkeiten, die auf EU-Ebene diesbezüglich bestünden. 

Schallenberg: „Man sollte Kirche im Dorf lassen“
Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) hält an seiner bisherigen Position fest, wonach er sich gegen einen Boykott des ungarischen EU-Ratsvorsitzes aus Protest gegen die Soloaktionen von Ministerpräsident Orbán ausspricht, wie eine Sprecherin gegenüber der APA sagte. Schallenberg hatte vergangenen Mittwoch im Ö1-„Morgenjournal“ die als „Friedensmissionen“ betitelten Reisen Orbáns kritisiert, darunter zu dem mit EU-Sanktionen belegten Kreml-Chef Wladimir Putin. „Er hat nicht im Namen der Europäischen Union gesprochen. Er hat kein Mandat, keinen Auftrag“, unterstrich Schallenberg. Man sollte „klare Linien ziehen, aber auch die Kirche im Dorf lassen“.

Bundeskanzler Nehammer hält ebenfalls nichts von einem Boykott der EU-Räte der Regierungschefs oder der Fachminister. „Orbán hat einen Tabubruch begangen, über den man diskutieren muss. Wir sollten dies aber nicht mit einem weiteren Tabubruch, nämlich einem Boykott beantworten“, hielt der ÖVP-Chef in einem Statement gegenüber der APA fest.

FPÖ: ÖVP soll gegen von der Leyen stimmen
Unterdessen forderte die FPÖ die Kanzlerpartei auf, gegen die Wiederwahl von der Leyens zu stimmen. An Bundeskanzler Nehammer appellierte Parteichef Herbert Kickl, den Boykott zu verurteilen. „Von der Leyen ist Sinnbild und negative Symbolfigur der undemokratischen Abgehobenheit der EU-Bürokratie, eines zutiefst undemokratischen Selbstverständnisses und einer Abkoppelung der selbsternannten Eliten von den Völkern Europas“, wetterte Kickl. Die EU-Kommission sei „nichts anderes als die Angestellte der EU-Mitgliedsstaaten, aber sicher nicht ihr Chef“. 

Die Wiederwahl von der Leyens steht am Donnerstag in Straßburg auf der Tagesordnung. Die deutsche CDU-Politikerin braucht dafür eine absolute Mehrheit von mindestens 361 der 720 Abgeordneten.

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