Vorarlberg spricht

Wir leben in einer erschöpften Welt

Vorarlberg
22.07.2024 14:15

Er ist eine hochverdiente Persönlichkeit des Vorarlberger Theaterlebens. Der Schauspieler Hubert Dragaschnig (geb. 1959) hat vieles in seinem Leben riskiert, große Triumphe gefeiert, aber auch Schiffbruch erlitten, wie er offen bekennt.

Er war Gründungsmitglied des Vorarlberger Autorenverbands, Produktionsleiter bei den Bregenzer Festspielen, hat gemeinsam mit Augustin Jagg das Theater Kosmos in Bregenz etabliert, eine Bühne, die mit bewunderungswürdiger Kontinuität ausschließlich zeitgenössische Stücke auf den Spielplan setzt. „Kunst ist ein Bollwerk gegen Unmündigkeit.“ So definiert er sein jahrzehntelanges Schaffen. Dafür haben er und Jagg 2020 mit stehenden Ovationen den Dr.-Toni-und-Rosa-Russ-Preis erhalten.

Ich traf Dragaschnig zur „Blauen Stunde“ bei einem Soda-Zitron im Gastgarten des Hotel Schwärzler, wo ich einen sehr eloquenten Erzähler kennenlernte, einen Menschen, der es liebt, zu philosophieren, einen Mann, der mit sich und seinem Lebenswerk ganz im Reinen zu sein scheint.

Im Gespräch mit Autor Robert Schneider erzählte der Theatermacher unter anderem von seinen dramatischen Anfängen, die mit einer Kerze und einem Ei zu tun hatten ... (Bild: Mathis Fotografie)
Im Gespräch mit Autor Robert Schneider erzählte der Theatermacher unter anderem von seinen dramatischen Anfängen, die mit einer Kerze und einem Ei zu tun hatten ...

Robert Schneider: Fangen wir ganz von vorne an, Hubert. Du bist in Bludenz geboren. Was war das für ein Zuhause, in dem du aufgewachsen bist?
Hubert Dragaschnig: Ich bin die ersten sieben Jahre in der Sturnengasse 18 in Bludenz aufgewachsen. Die Sturnengasse war in früheren Zeiten so etwas wie das „Narragässle“. Dort lebte die sehr arme Bevölkerung. Wir hatten kein Bad. Die Mama hat die Wäsche noch auf dem Waschbrett gerieben. Ein Mal im Monat ist man zu Bekannten gegangen, um dort zu baden. Später sind wir in die Kreuzsiedlung gezogen, in einen sozialen Wohnbau. Mein Vater war Kärntner, meine Mutter kam aus Fontanella im Walsertal. Ich bin also das Kind von Migranten. Der Vater, der bei der SS war und danach in russischer Kriegsgefangenschaft, hat das Wirtschaftswunder irgendwie nicht geschafft, weshalb auch der Druck auf den Sohn besonders groß war. Mir wurde das erst viele Jahre später klar, nämlich, wie betrogen das Leben meines Vaters und seiner Generation gewesen sein muss. Das 20. Jahrhundert ist ja ein Jahrhundert ohne Narrative. Es wurde einfach nicht darüber gesprochen. Sich diesem Druck zu widersetzen, gelang nur durch Verweigerung, was zur Folge hatte, dass meine schulische Laufbahn dementsprechend durchwachsen war. Nach mehreren Schulwechseln und dem dreimaligen Wiederholen der 7. Klasse Gymnasium habe ich aufgegeben.

Kommt daher der Drang, dich künstlerisch zu betätigen? Eine Art Gegenentwurf zu deiner damaligen Welt?
Ein Grund, sich künstlerisch zu betätigen, ist mit Sicherheit die Empörung über das Leben, wie es sich dir darbietet. Also entwickelte ich Strategien. Ich erinnere mich: Meine erste theatralische Darbietung gemeinsam mit einem Freund bestand darin, im Keller der Kreuzsiedlung eine Glühbirne zu wechseln. Aber die Glühbirne war in Wirklichkeit ein rohes Ei, das auf den Kopf eines Zuschauers gefallen ist. Dafür haben wir zehn Groschen Eintritt verlangt. Der Hang zum Dramatischen war mir immer eigen. Mein Beginn ist der Aktionismus. Dekonstruktion und Verweigerung. Erst viel später wurde mir klar, dass die klügere Form von Theater die Verführung ist, weil es dazu ein subtiles Handwerk braucht.

Ab wann war für dich klar, dass du den steinigen Weg eines freischaffenden Künstlers gehen willst?
Ich hatte einige Geburtshelfer. Ingo Springenschmid, Michael Köhlmeier und Leo Haffner, der ehemalige Leiter der Hörspiel- und Literaturabteilung des ORF-Vorarlberg. Ihr Zuspruch hat mich ermutigt, diesen Weg zu gehen. Dann kam eine Hospitanz am Landestheater. Davon habe ich gelebt. Zwischendurch war ich auf der Angewandten in Wien bei Oswald Oberhuber. Aber nur zwei Monate lang. Das war Anfang der Achtziger Jahre. Ich mochte Wien nicht. Als ich am Westbahnhof ankam, telefonierte ich nur kurz, drehte mich um, und der Koffer war weg. So hat mich diese Stadt empfangen. Heute liebe ich sie. Ich kehrte wieder nach Vorarlberg zurück, kaufte mir von Rolf Aberer einen LKW, machte den Führerschein, ging zum Landeshauptmann Herbert Kessler. Der gab mir Geld, und so gründete ich die „Vorarlberger Volks- und Wanderbühne“. Sie brachte es auf immerhin zwei Produktionen. Danach war ich heillos überschuldet.

Robert Schneider traf Hubert Dragaschnig im Theater Kosmos im Bregenzer Vorkloster. (Bild: Mathis Fotografie)
Robert Schneider traf Hubert Dragaschnig im Theater Kosmos im Bregenzer Vorkloster.

Dann wurdest du Produktionsleiter im Bereich Schauspiel bei den Bregenzer Festspielen ...
Noch nicht gleich. Ich habe da sehr viele unterschiedliche Dinge gemacht. Das war eine wunderbare Zeit. Ich war auf der Seebühne einer dieser „Mero-Helden“. Mero ist der Markenname für ein Stahlrohrsystem, das wir in teilweise schwindliger Höhe mit so Maulschlüsseln zusammengeschraubt haben. Eine wirkliche Schufterei und am Abend eine wunderschöne Form von Müdigkeit. Dann war ich auf dem Schnürboden im Festspielhaus. Dort hatte ich mein Erweckungserlebnis, was die Oper anbelangt. Viele Meter unter mir sang Edita Gruberova die Elvira in „I Puritani“ von Vincenzo Bellini. Ich hatte damals noch keine Ahnung von Oper. Ich stehe also da oben, und plötzlich dringt von der Gruberova ein Ton zu mir herauf, der mich in Tränen ausbrechen ließ, ohne zu wissen, weshalb und warum. Bei einem Gastspiel des Berliner Schillertheaters mit Pavel Kohouts „Patt“ gab es eine Bombendrohung. Ich habe an dem Abend den Vorhang gezogen und dachte, kommt jetzt mein großer Moment? Jetzt musst du vor das Publikum treten und sagen: „Meine Damen und Herren ...“ Zum Glück hat sich die Sache rasch aufgeklärt.

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Ich stehe also da oben, und plötzlich dringt von der Gruberova ein Ton zu mir herauf, der mich in Tränen ausbrechen ließ, ohne zu wissen, weshalb und warum.

Hubert Dragaschnig

Von Augustin Jagg gibt es eine sehr schöne Inszenierung von Büchners „Leonce und Lena“ am TaK in Schaan, wo du den Valerio gespielt hast. Habt ihr euch da kennengelernt?
Nein, wir kannten uns schon aus der Hörspielabteilung des ORF-Vorarlberg. Daraus ist eine Freundschaft entstanden, und im Jahr 1996 haben wir dann gemeinsam das Theater Kosmos gegründet.

Du hast am Beginn des Interviews von einer Zeit gesprochen, die kein Narrativ hatte. Sind wir heute nicht auch dabei, unser Gegenüber zu meiden und dabei in unserer medialen Bubble zu versinken?
Das Freizeitverhalten hat sich grundlegend gewandelt. Ich beobachte das nicht nur am Theater, das ja eine Freizeitveranstaltung ist, sondern auch im Kino, bei Konzerten. Und zwar nicht nur in unserer Generation, sondern auch bei den Jungen. Die Clubs sterben. Der Aspekt, der zählt, ist doch in Wirklichkeit das Interesse am Anderen, am Gegenüber. Das Interesse ist enorm geschwunden. Es ist natürlich viel bequemer, daheim in der eigenen Blase zu sitzen. Das Internet ist eine permanente Selbstbespiegelung. Für die soziale Dynamik ist das ein sehr großes Manko, auch für die Mündigkeit in einer Demokratie. Die Lust, sich mit einander in direkter Weise auszutauschen, gemeinsam zu denken und sich zu artikulieren, kostet natürlich viel Energie. Diese Energie wollen viele nicht mehr aufbringen, weil sie, was ihren Alltag anbelangt, einfach zu erschöpft sind. Wir leben in einer erschöpften Welt.

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