Autor Robert Schneider erinnert sich an ein ganz besonderes Möbelstück – und den unangekündigten Gast „Ziwui“.
In unserer Küche stand jahrelang ein braunes Kanapee, auf dessen floralem Stoffmuster schon die Unterfederung durchschimmerte. So durchgelegen war es. Darum platzierte meine Mutter weiße Zierdeckchen auf die Stellen, wo der Stoff am ärgsten abgewetzt war. Die Deckchen wurde im Lauf der Jahre immer mehr, bis sich meine Mutter endgültig dazu entschloss, das Kanapee ganz mit einer dicken Wollhaardecke zu verhüllen. Das war damals üblich. Ein neuer Bezug oder gar die Runderneuerung der ganzen Bepolsterung wäre einfach zu teuer gewesen. Es war die Generation, die nichts wegwarf.
Als die ersten Möbelhäuser hierzulande aufkamen, ließ sich mein Vater eine unglaublich hässliche, klobige, creme-grüne Polstercouch aufschwatzen, die er, als sie geliefert wurde, sofort mit alten, farblich völlig unharmonischen Decken vermummte. Die Couch sollte Generationen überdauern. Sie war als Erbstück gedacht. So ein teures Möbel kaufte man schließlich nur ein Mal im Leben.
Zugemüllt mit Schul- und Spielsachen
Auf dem brauen Kanapee in der Küche habe ich meinen Vater nur selten ruhen gesehen. Als ich klein war, lag er öfters dort. Nach dem Mittagessen. Zehn Minuten. Dann war er schon wieder auf dem Feld zugange. Meistens stand es unbenutzt da oder war zugemüllt mit unseren Schul- und Spielsachen. Wie oft hat meine Mutter gedroht: „Ich werfe jetzt alles zum Fenster hinaus!“ Getan hat sie es nie, sondern still weggeräumt, wenn wir schliefen.
Es war die Zeit, als Haustüren noch unverschlossen waren. Auch in der Nacht. Im ganzen Dorf war das so. Im Sommer standen sie überhaupt sperrangelweit offen. Niemand wäre auf die Idee gekommen, Türen abzusperren. Vielleicht, weil alle gleich viel oder eben gleich wenig hatten.
Da meine Eltern eine kleine Gemischtwarenhandlung betrieben, war natürlich immer viel los. Geschäftszeiten gab es damals noch nicht. Man kam einfach vorbei und holte sich, was man brauchte oder im „Land unten“ beim Großeinkauf vergessen hatte. Zu unchristlichster Zeit konnte plötzlich jemand in der Küche stehen. Sofort ließ meine Mutter alles stehen und liegen, öffnete die knarzende Tür zur Gemischtwarenhandlung und bediente die Kundschaft. Sie liebte ihr kleines „Lädele“, und wenn sie am Monatsende in der Küche neben dem braunen Kanapee auf einem riesigen gelben Schreibblock in Schönschrift die Buchhaltung erledigte, war sie glückselig.
Es war in einer unglaublich schwülen Sommernacht. Damals gab es auch schon entweder völlig verregnete oder endlos schwüle Sommer. Ich lag im Bett und konnte vor Hitze nicht schlafen. Der Rücken brannte von einem heftigen Sonnenbrand, den ich mir beim Heuen eingefangen hatte. Ich wälzte mich hin und her, während mein Bruder seelenruhig vor sich hin schnarchte. Ich stand auf, schlich die ächzende Holztreppe hinunter zur Küche, gab mir alle Mühe, keinen Lärm zu machen. In der Küche wollte ich ein Geschirrtuch nehmen, es nass machen und dann zur Linderung auf meine glühenden Schulterblätter legen. Ich drehte das Licht nicht an, damit ich niemanden wecken würde. Plötzlich hörte ich ein Atmen. Es war mehr ein Schnauben, denn Atmen. Mir rutschte das Herz in die Hose. Kein Zweifel. Da war jemand in der Küche. Obwohl es stockfinster war, konnte ich einen Schemen auf dem Kanapee ausmachen. Dort kauerte ein wildfremder Mensch und schlief, wie es den Anschein machte. Es roch nach Tabak und Alkohol. Ich wagte nicht, das Küchenlicht anzuknipsen, stahl mich so leise wie möglich davon, kroch zu meinem Bruder unter die Decke und vergaß vor lauter Angst sogar meinen Sonnenbrand. Mein Bruder stöhnte kurz auf, drehte sich um und schnarchte weiter.
Die letzten Meter nicht mehr geschafft
Am Morgen klärte sich die Begebenheit auf. Ich hatte nicht eine Sekunde lang ein Auge zugetan und war deshalb auch der Erste, der in die Küche ging. Dann erkannte ich den Fremden auf dem Kanapee. Es war der „Ziwui“, wie er im Dorf genannt wurde. Ein Holzknecht aus dem Tirolischen, der einige Häuser weiter bei der Waldarbeit mit Haflingerpferden mithalf. Der „Ziwui“ war ein alleinstehender, liebenswürdiger alter Mann mit Vollglatze, einem spitzen Kinn und ebenso spitzer Nase. Er hatte ein Holzbein, das er immer nach zog. Bei ungefähr jedem zehnten Schritt sagte er „Zwiui!“, weshalb er diesen Spitznamen bekommen hatte. Wenn er redete, verstand ich kaum ein Wort. Er nuschelte und hatte keine Zähne mehr im Mund. Aber wenn er von seiner Kindheit in Kössen im Kaiserwinkl erzählte, erkannte man es daran, dass seine wasserblauen Augen zu glänzen begannen. Er hatte unheimliches Heimweh, weshalb er auch oft über den Durst trank. Und so kam es vor, dass er die letzten paar hundert Meter bis zum Nachbarn nicht mehr schaffte, mitten in der Nacht in unsere Küche trat und sich auf das braune Kanapee zum Schlafen hinlegte.
Meine Eltern ließen ihn gewähren, weil sie im Gegensatz zu mir wussten, wie verloren der „Ziwui“ wirklich war und welch fürchterliche Dinge er im Krieg hatte mitansehen und erleben müssen. Sie erteilten ihm kein Hausverbot, vertrieben ihn nicht. Heute würde man ja sofort die Polizei rufen oder auf Hausfriedensbruch klagen. Manchmal blieb er bis zum Frühstück, trank eine Schüssel voll Malzkaffee, in die er ein Stück Weißbrot tunkte. Wenn es Zopf gab, erstrahlten seine wasserblauen Augen.
Der „Ziwui“ fiel uns nie zur Last. Meistens lag er nämlich nur ein oder zwei Stündchen auf dem Kanapee, schlich danach lautlos davon wie er gekommen war. Er ließ nie etwas mitgehen, und die gehäkelten Deckchen auf dem Kanapee strich er immer glatt. Vermutlich hat er oft in unserer Küche geschlafen, und wir haben weder sein Kommen noch sein Gehen bemerkt. Er wollte sich einfach nur etwas ausruhen vom Leben. Auf dem braunen Kanapee gelang ihm das. Dann ging er wieder weg und sagte vermutlich nach jedem zehnten Schritt „Ziwui!“
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