Historischer Vorstoß

Wie die Ukraine Russland in zwei Phasen blamierte

Ausland
14.08.2024 15:47

Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg hat ein ausländischer Staat russisches Territorium erobert. Ukrainische Truppen dürften bei der waghalsigen Operation in der Region Kursk vor allem zwei Phasen erfolgreich wiederholt haben. Die Demütigung des Kremls könnte aber gehörig nach hinten losgehen.

Was in Russland seit dem 6. August passiert, ist absolut historisch. Westliche Analysten, Militär-Blogger und die russische Führungsriege wurden völlig überrumpelt – von einer neuen Art Blitzkrieg. Der Plan unterlag strengster Geheimhaltung. Berichten zufolge wurden auch die ausführenden Truppen sehr kurzfristig in die Mission eingeweiht. 

Wie ist die Ukraine in Kursk vorgegangen?
Bei ihrer Offensive in der russischen Grenzregion Kursk ist die ukrainische Armee nach einer Auswertung der Nachrichtenagentur AFP bis Montagabend um bis zu 800 Quadratkilometer vorgerückt. Zum Vergleich: Das ist in etwa doppelt so groß wie die Fläche von Wien.

Seit Tagen posten Ukrainer, wie sie in russischen Ortschaften ukrainische Flaggen hissen. Auf Google Maps monieren Selenskyjs Soldaten scherzhaft, dass russische Restaurants und Supermärkte zu wenig Platz für ihre Panzer bieten würden. Es kursieren Videos von Wladimir Putins Truppen, die sich kampflos ergeben. Etwa 200.000 Russen sind auf der Flucht.

Es ist ein absolutes Desaster für den Diktator im Kreml, der seinen Landsfrauen und -männern stets versprochen hatte, die „Spezialoperation“ werde ihr Leben nicht beeinträchtigen. Nun stellt sich die Frage: Wie konnte das passieren? Das Vorrücken wurde offenbar in zwei Phasen aufgeteilt. 

Phase 1

Das Schlachtfeld verdunkeln

Die Region Kursk stellte ein leichteres Ziel dar als andere Gebiete entlang der Front im Osten und Süden der Ukraine. Es gab dort weniger Gräben für gepanzerte Fahrzeuge, weniger Drachenzähne und weniger bemannte Kampfstellungen, sind sich Experten sicher.

Russland schien auch weniger Minen in der Kursker Region als in den besetzten ukrainischen Gebieten gelegt zu haben. Ein Zusammenziehen der ukrainischen Truppen kurz vor der Invasion wurde in Russland zwar registriert, jedoch völlig falsch gedeutet, berichtet etwa die „New York Times“. Doch am wichtigsten: Veraltetes Material der Russen bot den Ukrainern ein riesiges Einfallstor.

Die Ukraine hatte dadurch in einer ersten Phase die Möglichkeit, das Schlachtfeld für die Russen zu verdunkeln. Russische Aufklärungsdrohnen wurden offenbar innerhalb kürzester Zeit zum Absturz gebracht, sodass die örtlichen Befehlshaber nicht mehr sehen konnten, was vor sich ging. Dieser vorübergehende Schatten wurde genutzt, um Störsender mit kurzer Reichweite an die Front zu bringen.

Russische Drohnen waren nutzlos
„Sie entdeckten die Hauptfrequenzen unserer Grenzfunknetze und die Frequenzen der Drohnenkontrolle und bereiteten starke Störsender vor, die unsere Kommunikation unterbrachen“, berichtet ein russischer Kriegsblogger. Es scheint, dass die russischen Drohnen in diesem Sektor nicht nach den neuesten Standards arbeiteten.

Russische Aufklärungsdrohnen wurden vom Himmel geholt:

Indem die Ukraine genügend Störsender im Sektor Kursk konzentrierte, neutralisierte sie die russischen Drohnen und ermöglichte es ihren Panzern, offenes Gelände zu durchqueren, ohne zerstört zu werden.

Phase 2

Luftdominanz und Zerstörung des Nachschubs

Nachdem die russische Luftdominanz neutralisiert wurde, überzogen die Ukrainer den russischen Himmel mit einem eigenen engmaschigen Drohnen-Netz. So konnten Öffnungen in Schützengräben gesprengt werden. Drohnenpiloten drangen anschließend mit kleineren und wendigeren Modellen ein und richteten enormen Schaden an.

Die Ukraine soll in Sudscha einen Gas-Knotenpunkt kontrollieren. Österreich ist von diesem Transportweg in besonderem Maße abhängig:

Nach dem Drohnen-Blitz soll die ukrainische Infanterie vorgerückt sein, um das Gebiet zu sichern. Dann wurden die Funkstörsender nach vorne gebracht, und der ganze Vorgang wurde für die nächste Etappe des Vormarsches wiederholt. Mit dem HIMARS-Raketensystem – geliefert von den USA – sollen zudem russische Nachschublinien zielsicher zerstört worden sein. Das legen Bilder und Videos in sozialen Netzwerken nahe.

Bilder des zerstörten Konvois:

Darin ist ein ausgebrannter Russen-Konvoi in der Nähe der Stadt Rylsk zu sehen, etwa 30 Kilometer innerhalb des russischen Territoriums. Bestätigt ist diese Theorie nicht, die ukrainische Führung schweigt eisern zu operativen Details.

Wie begründet Kiew das Manöver?
Die Beweggründe der Mission werden allerdings benannt: Die Ukraine will die im russischen Gebiet eingenommenen Flächen nach offiziellen Angaben nicht dauerhaft besetzen. Es gehe um die Entlastung der angeschlagenen Truppen im Donbass. Außerdem solle die russische Logistik gestört werden, um zu verhindern, dass Moskau zusätzliche Truppen in das ostukrainische Kampfgebiet Donezk verlegt.

Selbstverteidigung stehe im Vordergrund, da Russland von Kursk aus immer wieder ukrainische Städte bombardierte. Kiew zufolge sei deshalb der Einsatz westlicher Waffen gerechtfertigt, Vereinbarungen seien nicht gebrochen worden. Dem Vernehmen nach wurden auch die engsten Partner der Ukraine nicht in die Pläne eingeweiht. 

Was droht der Ukraine nun?
Oberst Markus Reisner zufolge diene die waghalsige Operation der gezielten Informationskriegsführung. „So soll eine Dynamik entstehen, wie sie im Herbst 2022 im Raum Charkiw stattgefunden hat. Damals dachten die russischen Soldaten, sie werden überflügelt und sind in Panik geflohen“, erklärte der Bundesheer-Offizier auf Anfrage der „Krone“.

Oberst Markus Reisner sieht geringe Erfolgschancen. (Bild: P. Huber)
Oberst Markus Reisner sieht geringe Erfolgschancen.

Ein derartiges Vorgehen funktioniere aber nur in den ersten 72 Stunden eines überraschenden Angriffes und dieses Zeitfenster ist inzwischen vorbei. Es sei bereits zu beobachten, dass sich russische Truppen „konsolidieren und laufend Reserven eintreffen“.

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Geht das Kalkül der Ukrainer in den nächsten Tagen und Wochen nicht auf, steht sie vor dem Dilemma, ab sofort eine noch längere Front versorgen zu müssen.

Oberst Markus Reisner, Leiter der Entwicklungsabteilung der Militärakademie (Bild: Bundesheer)

Oberst Markus Reisner

Die ukrainische Moral sei hoch, doch die Risiken würden jetzt überwiegen: „Möchte man den gewonnenen Raum südwestlich von Kursk nun halten, muss man immer weiterer Kräfte nachschieben und diese mit Soldaten, Gerät, Waffen und Munition versorgen.“ Dabei handele sich um Ressourcen, die Reisner zufolge im Donbass abgehen würden.

Operation Kursk könnte negativer Wendepunkt sein
Die Blamage Putins würde nach einer harten Reaktion verlangen, sind sich auch politische Beobachter sicher. Ein Scheitern der ukrainischen Operation mit langfristigen Negativfolgen könnte zudem dazu führen, dass Ukraine-kritische Stimmen weiteren Zulauf erhalten.

Im schlimmsten Fall wird die ukrainische Führung als unzuverlässig gebrandmarkt und Waffenlieferungen in weiterer Folge zurückgefahren. „Das Kursk-Manöver könnte das militärische Ende der Ukraine einleiten“, erklärte Militärexperte Gustav C. Gressel gegenüber dem „Spiegel“.

Medienberichten zufolge soll Putin vor Wut „schäumen“. (Bild: AP/Sputnik)
Medienberichten zufolge soll Putin vor Wut „schäumen“.

Die Ukrainer hoffen offensichtlich durch die Invasion –  und Eroberung kritischer Infrastruktur –  Putin zurück an den Verhandlungstisch zwingen zu können. Der Kremlchef hat diesen Plan jedoch bereits auf seine ganz eigene Art und Weise durchkreuzt.

Ausgerechnet Putin ließ mitteilen: „Über welche Art von Verhandlungen können wir überhaupt mit Leuten reden, die wahllos Zivilisten und zivile Infrastruktur angreifen?“

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