Robert Schneider

Zwei Brüder und ihr Weg nach Jerusalem

Vorarlberg
19.08.2024 13:25

Autor Robert Schneider schickt in seinem Gleichnis zwei Brüder auf die Reise nach Jerusalem und stellt dabei die Frage nach einem geglückten Leben. 

Es waren einmal zwei Brüder von adeliger Geburt. Ihr Vater, der ein Schildknappe des Kaisers gewesen war, starb im Krieg, als ein maurischer Pfeil seine Brust traf. Die Mutter, die Lieblingszofe der Kaiserin, hauchte ihr Leben aus, als die Zwillingsbrüder gerade die Augen aufgetan hatten. So wurden die Waisenkinder von einer Hofdame erzogen.

Von Kindheit an wetteiferten die Brüder untereinander, wer das tugendhaftere und gottgefälligere Leben führe. Die Hofdame, die sehr fromm war und auch gerecht, bevorzugte keinen, sondern erzog beide im Gleichmaß von Liebe und Züchtigung. Wenn die Knaben in langen Winternächten nicht einschlafen konnten, erzählte sie ihnen die Geschichte vom Grab zu Jerusalem. Eines ihrer Talente bestand nämlich darin, alles in wohlklingende und farbige Worte zu tauchen. Ein anderes, in den Brüdern die Sehnsucht nach der fernen, unbekannten Welt zu entfachen.

Die Hofdame erzählte, dass sich an dem, der das Grab Christi schaue, ein Wunder vollziehe. Er empfinde nie wieder Schmerzen noch sonst ein inneres oder äußeres Gebrechen. Sein Gemüt bleibe allzeit hochgestimmt, und kein Gran Kummer beschwere mehr seine Seele, so lange er lebe. Als die Brüder erwachsen waren und die Hofdame schon eine Greisin, da beschlossen sie, nicht nach Gut, Geld, Ruhm oder Ehre zu trachten, sondern nach Jerusalem zu pilgern. Sei es, um den Ablass aller Sünden zu erreichen, sei es, um die Verheißung zu schauen, von welcher ihnen die Hofdame so oft erzählt hatte. 

(Bild: Mathis Fotografie)

Also machten sie sich auf. Doch schon nach wenigen Wochen des Wanderns erhob sich ein Streit unter den Brüdern, welcher Weg der kürzeste und auch der sicherste wäre. Da sie nicht eins werden konnten, trennten sie sich an einer Weggabelung. Der eine entschied sich für die breite, weniger steinige Straße, die von allen Pilgern bevorzugt wurde, während der andere den Pfad beschritt, der steil bergan führte und sich in felsigen Kieferwäldern verlor. Sie verabredeten, dass, wer als erster Jerusalem erreichen sollte, am Grab Christi auf den anderen warten würde, und zwar jeden Tag von Sonnenuntergang bis zum Anfang der Nacht, gleichviel, wie lange es auch dauern möchte.

„Du Narr!“, schrie der auf dem ebenen Weg noch seinem Bruder hinterher. „Du wirst dich endlos verirren und nie nach Jerusalem finden! Wegelagerer werden dir nach dem Leben trachten, oder ein wildes Tier wird dich reißen!“ Aber der andere hörte ihn nicht mehr rufen und mahnen. Zu weit waren sie schon voneinander entfernt. So wanderten sie, ein jeder auf seinem Weg, in das Heilige Land.

Bald schon, nach wenigen Monaten, kam der, der sich für den einfachen Weg entschieden hatte, in Jerusalem an. Die Pilgerreise war ihm kurz erschienen. Kein Fährnis hatte ihn von dem Weg abgebracht. Überglücklich war er, als er im Abendrot die Zinnen der Stadt mit dem goldenen Tempel erblickte. Noch bevor er zur Herberge ging, fragte er nach dem Grab Christi, begierig, des Wunders teilhaftig zu werden, von dem die Hofdame einst erzählt hatte. Auch wollte er sehen, ob der Bruder schon vor ihm da wäre.

Steinige Wüste statt Freude und Glück
Er war nicht da, und also ging er durch die Pforte, hinter welcher das Grab lag. Er stand davor und empfand kein Glück in sich. Weder übermannten ihn Ehrfurcht noch Freude. Alles dünkte ihn steinige Wüste, alles sinnlos, ja lachhaft und leer. Er bereute, den Schritt ins heilige Land getan zu haben, ja, er verfluchte Jerusalem und am Ende sich selbst.

Nun wartete er jeden Tag auf seinen Bruder, so wie sie es untereinander verabredet hatten. Aber die Wochen und Monate verstrichen, ohne dass bei Sonnenuntergang jemals ein Mensch an der Grabespforte auf ihn gewartet hätte. Da beschloss er, heimzukehren in sein Vaterland. Ernüchtert kehrte er zurück in dem Gefühl, seine Zeit mit dieser Pilgerreise nutzlos vertan zu haben. Es vergingen Jahre, und er wähnte den Bruder schon lange tot, als dieser eines Morgens vor ihm stand, staubig und abgemagert bis auf die Knochen. Sie fielen einander in die Arme, herzten sich und hatten große Wiedersehensfreude. Da fragte der, der schon lange wieder daheim war, ob es dem Bruder auch so ergangen sei wie ihm, als er vor dem Grab gestanden hatte.

Was bedeutet das Wunder von Jerusalem?
„Ich bin nicht in Jerusalem gewesen“, antwortete jener. „Wie du es vorausgesagt hast, kam ich von dem Weg ab und habe mich verirrt. Wie du es vermutet hast, haben mich Räuber überfallen und mir den Arm mit Stangen gebrochen. Am Biss einer Schlange meinte ich gar zu sterben, so sehr hatte mich das Fieber geschüttelt. Doch bin ich auf meinem Weg geblieben. Plötzlich, ich weiß nicht, wie es kam, verspürte ich kein Bedürfnis mehr, in Jerusalem anzukommen. Auf einmal fühlte ich ein unbändiges Glück, eine herrliche Lust zu leben. Ich hatte immer nur Jerusalem vor Augen, nicht den verdorrten Baum an der Straße, die verbrannten Felder, die bitteren Berge und ausgetrockneten Flüsse. Ich hatte immer nur das Grab Christi vor Augen und das vermeintliche Wunder. Nicht das Lachen des Kindes, das mir ein Stück Brot von seinem gab. Nicht den Greisen, der mir den Arm verband und mich in seiner Hütte aufnahm. Nicht den kastilischen Jungen, der mich im Spiel auf der Oud unterwies, und nicht den sterbenden Soldaten, der mich tröstete, anstatt ich ihn. Da wusste ich, dass das Wunder von Jerusalem etwas Anderes bedeuten musste. Da erkannte ich, dass man sein Ziel nicht erreichen muss, um ein geglücktes Leben zu leben.“

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