Bluttat von Solingen

Neue Details offenbaren multiples Organversagen

Außenpolitik
26.08.2024 13:49

Das blutige Messerattentat von Solingen hat eklatante Mängel in der deutschen Asylkette offengelegt. Bundeskanzler Olaf Scholz wärmt nun alte Versprechen auf, während seine Parteikollegen die bisherige Politik verteidigen. Dabei werden blinde Flecken im System immer offensichtlicher.

Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz erklärte die Asylfrage Ende 2023 zur Chefsache. In einem Interview mit dem „Spiegel“ kündigte er an, dass er im „großen Stil“ Menschen abschieben wolle. Heute darf behauptet werden: Der ansonsten schweigsame Sozialdemokrat hat den Mund wohl zu voll genommen. Denn in den meisten Fällen blieb es bei der Ankündigung.

Seither wurde Deutschland von mehreren Anschlägen heimgesucht. Scholz hatte als Konsequenz aus der tödlichen Messerattacke von Mannheim im Juni angekündigt, die Abschiebung von Schwerstkriminellen und terroristischen „Gefährdern“ nach Afghanistan und Syrien wieder zu ermöglichen. Gelungen ist das bisher nicht.

Hintergrund

  • Deutschland unterhält derzeit weder zu den Taliban-Machthabern noch zur Assad-Regierung diplomatische Beziehungen.
  • Abschiebungen in die Herkunftsländer Afghanistan und Syrien sind dementsprechend schwer durchzuführen.
  • Vor dem Hintergrund der Attacken von Mannheim und Solingen erhöht die Opposition den Druck.

Eklatante Mängel im Abschiebeverfahren
Am Freitagabend der nächste Schock: Bei einem Stadtfest in Solingen (Nordrhein-Westfalen) sind drei Menschen mit einem Messer getötet worden. Acht Menschen wurden verletzt, vier davon schwer. Der mutmaßliche Täter ist ein 26-jähriger Syrer, der IS hat die Bluttat für sich reklamiert. Der Fall legt die Fehler im System schonungslos offen:

  • Wie am Sonntag bekannt wurde, hätte der Mann eigentlich im vergangenen Jahr nach Bulgarien abgeschoben werden sollen, weil sein Asylantrag abgelehnt worden war. Der Syrer war über Bulgarien in die Europäische Union eingereist.
  • Am Tag seiner geplanten Abschiebung sei der 26-Jährige jedoch nicht in seiner Flüchtlingsunterkunft in Paderborn angetroffen worden. Zu diesem Zeitpunkt durften deutsche Polizisten in Gemeinschaftsunterkünften keine anderen Räume betreten als das Zimmer des Abzuschiebenden. 
  • Der Syrer sei „nicht untergetaucht“, wie NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) mitteilte, sondern habe sich immer wieder in der Flüchtlingsunterkunft aufgehalten.
  • Warum sein Fernbleiben weitgehend ohne Folgen für ihn blieb, ist bislang unklar. Nach der misslungenen Abschiebung verpassten es die Behörden, entsprechende Dublin-Fristen zu verlängern. Deutschland war fortan für seinen Fall zuständig. Dem 26-Jährigen wurde Ende 2023 subsidiärer Schutz gewährt, den Geflüchtete aus dem Bürgerkriegsland Syrien häufig bekommen.
  • Jetzt steht die Frage im Raum, wie hartnäckig versucht wurde, den Mann außer Landes zu bringen. Und warum nach seinem kurzfristigen Verschwinden kein Haftbefehl ausgestellt wurde. Die zuständige Ministerin Josefine Paul (Grüne) sei derzeit damit beschäftigt, nachzuvollziehen, was hier schiefgelaufen sei.
NRW-Ministerpräsident Wüst, Solingen-Bürgermeister Kurzbach und Kanzler Scholz gedenken der Opfer. (Bild: AFP/INA FASSBENDER)
NRW-Ministerpräsident Wüst, Solingen-Bürgermeister Kurzbach und Kanzler Scholz gedenken der Opfer.

Union fordert Aufnahmestopp
In Deutschland ist eine Debatte darüber entbrannt, wie der Asylprozess vom Antrag bis zu einer potenziellen Abschiebung reformiert werden könnte. CDU-Chef Friedrich Merz plädierte etwa für einen radikalen Aufnahmestopp für Flüchtlinge aus Syrien und Afghanistan. Wie dies rechtlich umgesetzt werden soll, ließ er offen.

Bayerns Ministerpräsident Markus Söder von der CDU-Schwesterpartei CSU forderte eine striktere Abschiebepraxis für abgelehnte Personen. Zuletzt sorgten in Deutschland auch Fälle von Asylwerbern für Aufmerksamkeit, die trotz ihres Flüchtlingsstatus in ihren Heimatländern Urlaub machten.

CDU-Chef Merz skizziert seinen Asyl-Plan: 

„Ich fordere Scholz auf, mit uns zusammen schnell Entscheidungen zu treffen, die konsequent darauf ausgerichtet sind, weitere Terroranschläge zu verhindern. Nach Syrien und Afghanistan kann abgeschoben werden, weitere Flüchtlinge von dort nehmen wir nicht auf“, erhöhte Merz nun den Druck auf Kanzler Scholz.

SPD lässt CDU abblitzen
Der „Ampel“-Chef wiederum forderte, der Täter müsse „mit der vollen Härte des Gesetzes“ bestraft werden. Als Reaktion auf den tödlichen Messerangriff von Solingen hat Scholz am Montag eine rasche Verschärfung des Waffenrechts in Aussicht gestellt. Wieder versprach er: „Das soll und das wird jetzt auch ganz schnell passieren“, versicherte der SPD-Politiker bei seinem Besuch in Solingen. 

Und er sagte, was er bereits nach Mannheim erklärte: Scholz wolle nun schneller abschieben. Notfalls „mit rechtlichen Regelungen“, was wenig bahnbrechend klingt. Abschiebungen von Dublin-Fällen, die sich zuerst in anderen Ländern Europas aufhielten, müssten vorangebracht werden. „Da wird es sicherlich sinnvoll sein, eine Taskforce zu etablieren, die das genau studiert“, sinnierte Scholz. 

Kontext

  • Die meisten von Deutschland beantragten Überstellungen von Asylwerbern in andere EU-Staaten nach dem sogenannten Dublin-Verfahren werden nicht vollzogen.
  • Abschiebungen nach dem Dublin-Prinzip sind innerhalb bestimmter Fristen dann möglich, wenn Asylwerber bereits vor ihrer Einreise in einem anderen EU-Staat als Asylsuchende registriert wurden.
  • 12.808 der Gesuche seien laut Zahlen des deutschen Innenministeriums von den angefragten Staaten abgelehnt worden, in 21.314 Fällen sei dem Gesuch zugestimmt worden.
  • Tatsächlich erfolgt seien im laufenden Jahr bis Ende Juni aber lediglich 3043 Überstellungen. 

Über Parteichefin Saskia Esken und SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert ließ Scholz zudem CDU-Chef Merz abblitzen. Die Aufnahmestopp-Pläne des Oppositionsführers seien nicht umsetzbar, weil „die Verfassung, unsere Grundordnung, dem entgegensteht“, erklärte Kühnert in einem Interview. Die Antwort könne doch nicht sein, dass Menschen, die selber vor Islamisten fliehen, die Tür vor der Nase zugeschlagen werde, argumentierte Kühnert.

Sein Vorschlag: „Wir müssen Hassprediger gerade auch im Netz in den Blick nehmen, wir müssen gucken, wie die Radikalisierung stattfindet.“ An der vom Kanzler versprochenen Abschiebung von Intensivstraftätern werde gearbeitet.

SPD-Chefin findet Anschlag wenig lehrreich
Zur Wahrheit gehört auch, dass der mutmaßliche Attentäter von Solingen bisher nicht als „Gefährder“ auffällig wurde. Denn die Behörden hatten den Syrer nicht auf dem Schirm, die Terrorfrühwarnsysteme blieben stumm. NRW-Innenminister Reul will der Polizei nun mehr rechtliche Befugnisse einräumen, um „im Vorfeld“ Informationen zu sammeln. „Da tun wir uns in Deutschland irrsinnig schwer. Ich begreife das wirklich nicht mehr.“

Reul will der Polizei unter die Arme greifen:

Seine Worte finden bei den Sozialdemokraten jedoch wenig Anklang. SPD-Parteichefin Esken zufolge ließen sich aus dem Fall Solingen nur schwer Erkenntnisse gewinnen: „Aus diesem Anschlag lässt sich nicht viel lernen, weil der Täter nicht unter Beobachtung stand.“ Ihr Fazit: Die Aufmerksamkeit der Sicherheitsbehörden „sei durchaus da“. Die Bundesregierung sei hier nicht untätig. Ihre Worte ließen politische Beobachter verwundert zurück.

Vor allem die Anonymität von Solingen bereite Kopfzerbrechen, genau an dieser Stelle sei ein Reflektieren – und infolgedessen ein Dazulernen – das Gebot der Stunde. Niemand hatte diesen Mann, der längst wieder in Bulgarien hätte sein sollen, auf dem Zettel. Wie soll auf eine Gefahr reagiert werden, die niemand kommen sieht?

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