Wiens viertes Kinder- und Jugendpsychiatrisches Ambulatorium öffnet mit einer Kapazität für 600 junge Menschen in Not. Das Rathaus weiß, dass das noch nicht reicht, sieht jedoch ein Ende der Unterversorgung in greifbarer Nähe. Die Ärztekammer hingegen warnt weiterhin vor Engpässen.
Noch riecht es nach frischer Farbe, und die Wände sind kahl. „Da braucht es noch mehr Farbe“, konstatiert auch Gesundheitsstadtrat Peter Hacker beim ersten Rundgang durch das neue Kinder- und Jugendpsychiatrische Ambulatorium in Floridsdorf, in dem zu Jahresende der Betrieb hochgefahren wird. Spätestens im Februar soll die volle Kapazität erreicht sein und damit jedes Jahr Behandlung für 600 junge Menschen mit psychischen Problemen bieten.
Weiteres Ambulatorium noch für heuer geplant
Es ist das vierte von insgesamt sechs solchen geplanten Ambulatorien, je zur Hälfte von der Stadt und der ÖGK finanziert. Sowohl Hacker als auch Wiens ÖGK-Vorsitzender Manfred Heimhilcher unterstreichen, dass das beidseitige Engagement auch den Unterschied zur krassen Unterversorgung in manchen anderen Bundesländern ausmacht. Das fünfte Ambulatorium soll noch heuer innerhalb des Gürtels öffnen, das sechste spätestens 2026 im Südosten der Stadt.
Mit den insgesamt sechs Ambulatorien will die Stadt die psychosoziale Vollversorgung bei Kindern und Jugendlichen erreicht haben – auch wenn Georg Psota, Chefarzt der Psychosozialen Dienste (PSD) in Wien, zur psychischen Gesundheit der Wiener Jugend meinte: „Die Frage, wie das weitergeht, ist unklar.“ Ebenso gestand Heimhilcher ein, dass neue Kassenstellen allein nicht reichen, um sie auch zu besetzen. Die neue Ambulatoriumsleiterin Caroline Di Maria, bisher an der Berliner Charité tätig, räumte ebenso ein, dass es noch „Lücken“ in ihrem Ärzteteam gebe.
Eine Vernachlässigung des niedergelassenen und stationären Bereichs weisen alle Beteiligten zurück. Da gebe es „keine Konkurrenz“, so Psota. Gerade bei den nun überhand nehmenden Krankheitsbildern „profitieren Patienten am meisten von tagesklinischen Angeboten“, betonte wiederum Di Maria. Für Psota ist ohnehin noch wichtiger, dass durch eine Änderung der internen Abläufe nun viel schneller reagiert werde, denn „wer schnell hilft, hilft in dem Bereich nicht nur doppelt, sondern in Wirklichkeit zehnfach“.
Ärztekammer sieht Versorgung weiterhin in Gefahr
Die Ärztekammer lobt zwar den Ausbau der psychiatrischen Versorgung in Wien, sieht jedoch weiterhin „massiven Aufholbedarf“: Wiens Bevölkerung wachse, trotzdem beruhten Kassenstellen nach wie vor auf Plänen aus dem Jahr 2016. Das bedeute 90 Tage Wartezeit auf einen Kassentermin, denn vier von zehn Wiener Kassenmedizinern für Kinder- und Jugendpsychiatrie nehmen gar keine neuen Patienten mehr an. Kurienvertreterin Naghme Kamaleyan-Schmied betont, es brauche nicht nur mehr, sondern auch und „attraktive“ Kassenstellen.
Bei den Spitalsärzten sieht es laut deren Vertreterin Natalja Haninger-Vacariu nicht besser aus. Dabei gehe es nicht nur um einen Mangel an Ärzten, sondern durch die Pflege-Misere auch einen Mangel an Betten. Es gebe teils kritische Engpässe und die „Sorge, dass das Personal bald nicht mehr ausreichen könnte, um die Versorgung bestmöglich aufrecht zu erhalten“. Um Ärzte und Pflegekräfte langfristig in Wiens Spitälern zu halten, braucht es aus ihrer Sicht auch im Kinder- und Jugendpsychiatrischen Bereich „dringend eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen.“
Der Handlungsbedarf ist jedenfalls gegeben: Um die seelische Gesundheit junger Menschen in Wien ist es schlecht bestellt. Es steigen nicht nur die Zahlen der Betroffenen, sondern laut der jährlichen Befragung der Stadt empfinden Betroffene ihre Belastung auch immer intensiver. Mehr als jeder zweite Mensch in Wien hat laut eigener Aussage Sorgen und Probleme, die ihn im Alltag beinträchtigen – mit Erschöpfung, Ängsten, unkontrollierbaren Sorgen und depressiven Symptomen an der Spitze.
Zukunftaussichten für Junge „nicht positiv“
Während ältere Wiener im Durchschnitt 4,1 solcher Symptome an sich erkennen, sind es bei den unter 29-Jährigen durchschnittlich 6,7 Symptome. Besonders betroffen sind Mädchen und junge Frauen, hier liegt der Schnitt bei 7,5, Tendenz steigend. Vor den Corona-Jahren empfanden psychisch belastete Personen im Schnitt 3,2 Symptome. Seit dem Ende der Pandemie sind die Sorgen in manchen Bereichen sogar gewachsen. Junge Menschen klagen vor allem zusehends über unkontrollierbare Sorgen, Erschöpfung und Orientierungslosigkeit.
Hacker verweist auf Kriegsangst, Klimawandel und wirtschaftlich angespannte Zeiten als Gründe und gibt zu, die „für die Lebenszukunft von Kindern“ sehe es aus deren Blickwinkel „im Moment nicht positiv“ aus. Gerade die Vielzahl von Symptomen auf einmal befeuert psychische Probleme, vor allem Persönlichkeitsstörungen. Nicht umsonst ist das neue Ambulatorium auf Borderline-Störungen spezialisiert. Dafür macht Georg Psota, Chefarzt der Psychosozialen Dienste Wiens, auch soziale Medien verantwortlich. Persönlichkeit könne sich nur durch echte Interaktion entwickeln – und nicht durch die Simulation davon auf dem Handy.
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