Faszination Schweiz

Logenplatz am mächtigsten Eisstrom der Alpen

Reisen & Urlaub
12.09.2024 12:05

Wissen Sie, wie ein mähendes „Alpenschwein“ aussieht? Weshalb Kühe auch mal mit einer Gondel fahren? Oder wo man Cholera auf Bestellung bekommt? Die Antworten fand ich entlang eines Panoramaweges in der Walliser Gletscherwelt – mit Blick auf das ewige Eis und über Abgründe zwischen Aletsch-Arena und Goms.

In den Bergen ohne Auto sein. Was sich nach Aussteigerdasein anhört, ist im Kanton Wallis in der Schweiz gelebte Normalität. Dort sind die drei Almdörfer Bettmeralp, Riederalp sowie Fiescheralp nur durch Seilbahnen erreichbar. Ein Lebensmodell, das täglich logistische Sonderleistungen erfordert. Zahlreiche Menschen sorgen dafür, dass der Alltag auf über 2000 Metern Höhe reibungslos funktioniert.

Es gibt fast nichts, was nicht transportiert wird. Sogar Kühe sind schon bei einem plötzlichen Wintereinfall mit der Gondel geführt worden. Und auch der Müllwagen schwebt spektakulär durch die Lüfte, um den Abfall vom Berg ins Tal zu befördern.

Durchatmen kann man auf dem Hochplateau der Riederalp, selbst wenn in den Tälern die Sommerhitze brütet. (Bild: Zwickl)
Durchatmen kann man auf dem Hochplateau der Riederalp, selbst wenn in den Tälern die Sommerhitze brütet.

An Luxus fehlt es einem hoch oben jedenfalls nicht – ganz im Gegenteil! Gästen eröffnet sich ein weitläufiges, sonnenverwöhntes Hochplateau in bester Panoramalage – mit Blick auf mehr als 35 (!) Viertausender und den mächtigsten Eisstrom der Alpen: den Aletsch.

Mit einem strahlenden „Guete Morgu“ grüßt Klaus Minnig beim Frühstückstisch. Der ausgebildete Wander- und Trailrunningsleiter wird uns zwei Tage lang rund 30 Kilometer weit durch die Aletsch-Arena führen. Der Riederalp ist Ausgangspunkt für unsere eindrucksvolle Tour entlang des Panoramaweges (Markierung 39) über den Fiescheralp bis zu der „Sonnenterrasse im Goms“ nach Bellwald.

Gletscherfelder haben zur Genüge, was uns oft fehlt: Geduld
Sie sind die längsten Gletscher der Alpen: der Aletsch mit mehr als 22 Kilometern und der Fieschergletscher mit 14 Kilometern Länge. In tausenden von Jahren haben sie die grandiose Hochgebirgslandschaft um Jungfrau, Bietschhorn und Finsteraarhorn geformt.

360-Grad-Panorama
Die erste Begegnung mit dem Aletschgletscher ist großes Theater. Denn schon die Kulisse raubt einem den Atem, wenn man einen der vier Aussichtsplätze der Aletsch-Arena – auf der Hohfluh, Moosfluh, dem Bettmerhorn oder Eggishorn – erreicht. Die Endorphine schlagen Purzelbäume.

Ob es berühmten Wanderern, die einst die Gegend besuchten, ähnlich erging? 1779 kam Goethe und dichtete. Der junge Winston Churchill schrieb zwischen 1904 und 1913 in der Villa Cassel (auf der Riederfurka) an der Biografie seines Vaters. Und 1911 wurde der damals 19-jährige J.R.R. Tolkien hier von der beeindruckenden Naturkulisse zu seinem Epos „Der Herr der Ringe“ inspiriert.

Hoch über dem Aletschgletscher durchwandern wir Szenerien mit traumhaft bunten Alpwiesen, Ausblicken auf die Berggipfel der Viertausender und den märchenhaften, intensiv duftenden Arvenwald. Mit über 1000 Jahre alten knorrigen Bäumen zählt der Aletschwald zu den ältesten seiner Gattung.

Tiere und Pflanzen haben sich an die kargen Lebensbedingungen der Gletscherwelt gewöhnt. Sie trotzen Wind und Wetter, auch in 2500 Metern Höhe. Mit viel Glück kann man in den Sommermonaten bei einer Wanderung majestätischen Alpensteinböcken, putzigen Murmeltieren oder „Ghornuti“, dem gehörnten Schwarznasenschaf begegnen.

Walliserdeutsch für Anfänger
Auf unserem Weg lagen (nur) genügsame Hausschafe unter schattigen Felsen. Die Walliser nennen sie zynisch „Alpenschweine“. Und jeder, der am Berg „Grüezi“ sagt, ist für Einheimische ein „Grüezini“, also Deutschschweizer. In Wallis sagt man stets „Guete Morgu“ oder nach dem Mittag „Guete Nabu“ (Guten Abend). Das Walliserdeutsch ist wie das Matterhorn und das Raclette (im Sommer) ein Markenzeichen des Kantons.

Aus 4000 Metern Höhe, umgeben von den schneebedeckten Viertausendern der Jungfrauregion, wälzt sich der gigantische Eisstrom des Aletschgletschers in einer langgezogenen Kurve mehr als 22 Kilometer talwärts. Die erhabene Schönheit dieser zeitlosen Urlandschaft, die 2001 als erste Alpenregion zum UNESCO-Welterbe erklärt wurde, ist überwältigend. Ihre Ausmaße respekteinflößend.

Von der Eiszeit geprägte Landschaft
Das Eis bedeckt eine Fläche von rund 79 Quadratkilometern, so groß wie 11.000 Fußballfelder, und ist an manchen Stellen (Konkordiaplatz) bis zu 900 Meter dick! Ruhig und friedlich scheint der eisige Gigant vor uns zu liegen. Dabei wandelt sich jeden Augenblick sein Erscheinungsbild. Sichtbarstes Zeugnis seines ungebremsten Bewegungsdranges sind die dunklen Streifen, die die Eisfläche auf ihrer gesamten Länge durchziehen: die sogenannten Mittelmoränen – gewaltige Geröllablagerungen, die der Gletscher mit sich führt.

Gefährliche Abgründe
An einigen Stellen kommt man dem Gletscher besonders nahe. Fast greifbar scheint dort die Eisoberfläche zu sein. „Etwa 150 Höhenmeter sind es schon noch nach unten“, stellt Klaus Minnig richtig.

An der Oberfläche hat sich am Rand bräunlicher Staub abgelagert – der Abrieb von umliegenden Felswänden, den die Eismasse auf ihrer „Wanderung“ mitträgt. So nah dran sieht man die tiefen Risse im Eis. Gefährliche Abgründe, diese Gletscherspalten. An anderen Stellen fließen Schmelzwasserbäche und speisen kleine, tiefblaue Gletscherseen.

Das Gletschertor erscheint als blau schimmernde Eishöhle und steht im Kontrast zur verfärbten Oberfläche, die von Schutt und Geröll überzogen ist. (Bild: Schweiz Tourismus)
Das Gletschertor erscheint als blau schimmernde Eishöhle und steht im Kontrast zur verfärbten Oberfläche, die von Schutt und Geröll überzogen ist.

Der kleine „Bruder“ des Großen Aletsch
Elegant windet sich der Eisstrom an hochmütigen Drei- und Viertausendern vorbei, während der Panoramaweg zum grün schimmernden Märjelensee führt. Nach einer Übernachtung an der Fiescheralp geht es über teils ausgesetzte Passagen steil hinunter nach Goms. Je tiefer man kommt, umso mehr offenbart sich der Fieschergletscher. In einem schwer zugänglichen Tal fristet der zweitlängste Eisstrom der Alpen sein Schattendasein.

Seine Zunge ist stark mit Schutt bedeckt. Wie alle Gletscher weltweit ist auch er vom Klimawandel betroffen. Unser Blick schweift auf das Felsmassiv Burg und auf die Gommer Bergwelt. Es folgt ein abwechslungsreicher, aber teilweise anspruchsvoller Weg über vom Gletscher geschliffene Felsen aus Gneis.

Reise-Informationen

Blick mit Kick
Am Fuße des Fieschergletschers verbindet seit acht Jahren die Aspi-Titter-Hängebrücke die Aletsch-Arena mit dem Bezirk Goms. Davor mussten Wanderer einen mühsamen Umweg in Kauf nehmen, um vom Gebiet Aspi in Bellwald nach Fieschertal/Titter zu gelangen. Jetzt führt die 160 Meter lange Hängebrücke über die 120 Meter tiefe Weisswasserschlucht – Nervenkitzel inklusive.

Los gehts: Ein erster kraftvoller Schritt, die Brücke schwankt leicht, das Herz klopft, der Kopf schwirrt. Ein bisschen fühlt es sich an wie Fliegen. Jeder weitere Schritt durchkitzelt den Körper, sorgt für Adrenalinwellen. Der Atem wird ruhiger, die Augen können sich kaum von der Schönheit der Landschaft sattsehen. Es gibt einen Punkt, da scheint eine Umkehr schwieriger zu sein, als an dem Ziel dranzubleiben. Und nach einem kleinen Anstieg – angekommen. Wieder den Berg unter sich spüren, leicht zittrige Beine, ein unfassbares Hochgefühl!

Nach dem Erlebnis folgt der letzte, schweißtreibende Aufstieg bis vor Schranni. Hier werden einige Passagen über ausgesprochen steile Metalltreppen erklommen. Anschließend führt ein Pfad talwärts bis nach Wang und später ins besiedelte Ried, ein Vorort des Etappenziels. Bellwald liegt auf der rechten Talseite der Rhone und ist das höchstgelegene Dorf im Bezirk – weshalb es auch den Titel „Sonnenterrasse Goms“ trägt.

Cholera – heiß begehrt
Bergluft macht hungrig, heißt es. Um die Kraftreserven wieder aufzufüllen, genießen wir im Hotel Bellwald eine Walliser Spezialität: das Traditionsgericht Cholera. Was wie eine Krankheit tönt, ist eine Art Quiche mit Mehl, Härpfil (Erdäpfel), Boretsch (Lauch), Zwiebeln, Epfil (Äpfel) und Käse. Das Rezept variiert von Gegend zu Gegend, von Dorf zu Dorf, ja sogar von Familie zu Familie.

Seinen Namen hat der pikante Kuchen aus der Zeit, als in dem Schweizer Kanton die Cholera ausgebrochen war und Lebensmittel nicht getauscht werden durften. Der Kuchen wurde also mit allem gebacken, was der bäuerliche Haushalt hergab.

Es sind nicht nur die beeindruckenden Fakten oder die imposante Stille, die uns während der Wanderung in den Bann der Walliser Gletscherwelt gezogen haben, sondern die überwältigende Erfahrung, der eigenen verschwindenden Größe neben den gigantischen Naturschönheiten der Schweiz.

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