Eine ganze Saison lang ungeschlagen, Bayern München nach elf Titeln als Meister entthront und fast auch noch die Europa League erobert – das von Xabi Alonso gecoachte Bayer Leverkusen sorgte letzte Saison für einzigartige Fußballromantik. Die Doku „The Dream Comes True“ (Amazon Prime) zeichnet das ballesterische Märchen nun – erwartungsgemäß pathetisch – nach.
„Ich weiß auch nicht genau, woran es lag, dass wir in der Nachspielzeit so viele Tore geschossen haben – aber Zufall war es keiner“. Der technisch beschlagene Mittelfeldspieler Florian Wirtz fasst in der Amazon Prime-Dokumentation „Bayer Leverkusen – A Dream Comes True“ die Wundersaison des deutschen Überraschungsfußballmeisters ideal zusammen. Im Laufe der letzten Saison haben die Westdeutschen in allen Bewerben nicht weniger als 16 Tore in der Nachspielzeit geschossen und mitunter auch deshalb ein Jahr für die Ewigkeit gespielt. Man wurde über 34 Runden hinweg ungeschlagen Meister, feierte den Sieg im DFB-Pokal und schrammte nur im Finale der Europa League an der perfekten Saison vorbei, als man gegen das befreit aufspielende Atalanta Bergamo 0:3 verlor.
Ideales Märchen fürs Fernsehen
Derartige Sensationen sind im Milliardengeschäft Fußball selten geworden. Zu überlegen sind die ewig guten Teams mit den größten Budgets, da bleibt wenig Raum für den Durchmarsch eines Underdogs. 2016 gelang das etwa in der englischen Premier League Leicester City, 2024 nun eben Bayer Leverkusen. Eine derartige Märchengeschichte eignet sich ideal für eine Streaming-Dokumentation und Amazon Prime zeichnet die Geschichte in vier Teilen nach. Dabei kommen natürlich alle wichtigen Protagonisten der Meistermannschaft zu Wort, man vergisst neben Topspielern wie Wirtz, Robert Andrich oder Granit Xhaka aber auch nicht auf die wichtigen Eckpeiler abseits des Rasens. Am interessantesten gestalten sich dabei Einblicke in die Welt der Fanbeauftragten oder Physio-Trainer, die nicht im alltäglichen Mittelpunkt des Geschehens stehen.
In der Umsetzung wählt Amazon grob eine chronologische Abarbeitung der Ereignisse, franst dabei aber immer wieder aus, um das dramaturgische Level nicht allzu stark zu verwässern. So bekommt der erste Meistertitel der Vereinsgeschichte über zweieinhalb Teile der Dokumentation den größten Platz eingeräumt. Als Zuseher wird man Zeuge eines ungemein intakten Mannschaftsgefüges und der einzigartigen Konstellation, aus grundverschiedenen Individuen und Spielertypen, die dank der Spielleitung von Trainer Xabi Alonso zu ineinandergreifenden Zahnrädern werden. Der Spanier, der davor noch nie eine Erwachsenenmannschaft trainierte, ist mit seiner Vita eine eigene Märchenstory für sich. Er übernimmt einen sportlich brachliegenden Verein und verzaubert ihn in etwas mehr als einem Jahr zu einer der weltweit führenden Mannschaften.
Musterbeispiel an Mentalität
In durchaus ausführlichen Einzelinterviews kommt man den Fußballern näher und erfährt, was die besondere Chemie dieser Truppe ausmacht. Etwa wie sich ernsthafte und etablierte Spieler (Xhaka, Tah) mit Spaßvögeln (Frimpong), Talenten (Wirtz), Raubeinen (Andrich) oder tragischen Helden (Boniface, weil lange verletzt) vermischen und jede einzelne Rolle bzw. Persönlichkeit das Ihre zum Erfolgslauf beiträgt. Man erfährt von der unglaublichen Mentalität, die sich nach den ersten Siegen und Spielen aufbaut und von entscheidenden Momenten, die zur (fast!) vollständigen Unbesiegbarkeit führten. Etwa im Europa-League-Rückspiel gegen die AS Roma, wo eine 1:2-Niederlage zum Aufstieg gereicht hätte, man aber unbedingt ungeschlagen bleiben wollte und in der 97. Minute noch einmal ausgleicht.
Bayer Leverkusen wurde innerhalb von neun Monaten vom ewigen „Vizekusen“ zum verdienten „Meisterkusen“ und krönt diese Geschichte auch noch damit, dass der Erfolgstrainer und der Stamm der Mannschaft trotz vieler Angebote nicht die Chance auf Wechsel zu prominenteren Club wahrnahmen, sondern sich mit einer für heutigen Verhältnisse ungewohnten Vereinstreue zu neuen Höhen aufschwingen. Dass „Bayer Leverkusen – A Dream Comes True“ zuweilen arg pathetisch und kitschig wirkt und man vor lauter süßlich-inszenatorischem Perfektionismus kurz vor der unbefleckten Karies steht, ist zuweilen aber auch ärgerlich. Dann aber wieder überwiegen die wirklich schönen Momente – wenn etwa Rekordspieler und Vereinslegende Rüdiger Vollborn am Ende in echte Tränen ausbricht und sich gar nicht mehr halten kann. Dann merkt man, dass das Milliardengeschäft Fußball sein Herz doch noch nicht ganz verloren hat.
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