Es klingt wie ein Aprilscherz: Der Polestar 4 besitzt keine Heckscheibe. Weder serienmäßig noch optional. Aber wer weiß? Vielleicht haben Abermillionen von Autos eine Scheibe zu viel und nicht der Polestar eine zu wenig. „Krone“-Motorredakteur Stephan Schätzl klärt das und mehr hier im Video-Fahrbericht.
Diskalkulie statt Nomenklatur
Es läuft manches ungewöhnlich bei der Marke aus Göteborg, nicht nur die Sache mit der Scheibe. So ist der Polestar 4 nicht das bisherige Topmodell der Marke und steht auch nicht über den Polestars 1, 2 und 3, sondern rangiert in der Modellpalette zwischen Polestar 2 und Polestar 3. Es ist schlicht das vierte Modell, das auf den Markt kommt. Das macht die Sache nicht gerade übersichtlich (was wiederum zum Polestar 4 passt).
Dabei ist das Auto an sich sehr gelungen. Es steht auf der SEA-Plattform (Sustainable Experience Architecture) von Geely, wurde aber im Wesentlichen in Göteborg entwickelt, wie Roger Wallgren, Head of Vehicle Dynamics, im „Krone“-Gespräch beteuert. „Teilweise werden Teile von europäischen Zulieferern verwendet, teilweise solche von chinesischen, aber mit europäischen Spezifikationen“, erklärt der Norweger.
Feines Fahrgefühl, sportliche Fahrleistungen
Wir waren mit dem „Long Range Dual Motor“ unterwegs, der je einen 200 kW/272 PS und 343 Nm starken Permanentmagnetmotor an Vorder- und Hinterachse wund damit Allradantrieb hat. Leistung und Drehmoment addieren sich zu 544 PS und 686 Nm. Tempo 100 schafft er aus dem Stand in 3,8 Sekunden, bei 200 km/h wird abgeregelt.
Beim „Long Range Single Motor“ fällt der vordere Motor weg. Die 400-Volt- Nickel-Mangan-Kobalt Batterie speichert in beiden Fällen netto 94 kWh (brutto 100 kWh) und lässt sich mit bis zu 200 kW Ladeleistung in 30 Minuten von 10 auf 80 Prozent aufladen. Wechselstrom wird serienmäßig mit 11 kW, optional mit 22 kW geladen. Ein voller Akku reicht nach WLTP für 590 Kilometer (Single Motor: 620 km). Die Wärmepumpe ist serienmäßig. Die Hardware für bidirektionales Laden ist an Bord, Vehicle to Load (V2L) wird aber erst später verfügbar sein.
Wallgren hat mit seinem Team jedenfalls einen guten Job gemacht, das Auto fährt sich geschmeidig, es liegt satt in der Kurve und die Lenkung arbeitet feinfühlig. Insbesondere mit dem mittleren der drei einstellbaren Lenkwiderstände. Die 2350 kg DIN-Leergewicht werden gut kaschiert.
Die ZF-Adaptivdämpfer der Long-Range-Variante bieten eine deutlich spürbare Bandbreite zwischen relativ komfortabel und ziemlich straff. Was anderswo als Comfort-Modus bezeichnet würde, heißt hier „Normal“ – Comfort würde in dem eher sportlich ausgelegten SUV zu hohe Erwartungen wecken, erklärt Wallgren. Wir finden: Comfort würde auch passen.
Das Fahrgefühl in dem Mittelklasse-SUV-Coupé ist auch insgesamt sehr angenehm, es geht ruhig zu im Innenraum, selbst bei höherem Tempo. Das passt gut ins Wettbewerbsumfeld des D-Segments.
Nichts geht ohne Google
Der Innenraum ist markentypisch schlicht und aufgeräumt gestaltet, die Materialien wirken durchwegs hochwertig. Ein 15,4-Zoll-Touchscreen in der Mittelkonsole wird von einem 10,2-Zoll-Tachoscreen ergänzt. Dazu kommt auf Wunsch ein Head-up-Display. Das auf Google basierende Bediensystem gibt eine Vielzahl von Informationen auf den Displays wieder, die über Kacheln statt Listen relativ leicht zu finden sind, wenn man sich ein wenig eingearbeitet hat. Um die Parameter zu ändern, muss man aber in die Menüs oder Untermenüs des Touchscreens eintauchen. Und das Öffnen des Handschuhfachs wäre auch einfacher, wenn man nicht erst am Screen surfen müsste.
Nicht fürs Betreiben des Fahrzeugs, aber zur Unterhaltung und überhaupt schön und interessant, ist die Darstellung der Planeten unseres Sonnensystems mit ein paar Basisinfos dazu. Sie rufen Lichtstimmungen für die Ambientebeleuchtung ab.
Die Sache mit (bzw. ohne) der Heckscheibe
Offizielle Begründung für den Hecktrick: Das rein elektrische SUV-Coupé soll mehr Kopffreiheit auf der Rückbank bieten. Tatsächlich ist das Platzangebot in Reihe zwei ausgesprochen gut, auch die Kopffreiheit. Mit 4,84 Meter ist der Polestar 4 zwei Zentimeter kürzer als z.B. ein Mercedes EQE SUV, bietet aber deutlich mehr Platz, obwohl auch der Radstand mit glatt drei Meter um drei Zentimeter kürzer ist.
Der Kofferraum fasst beachtliche 526 Liter (davon 31 Liter unter dem Gepäckraumboden, zusätzlicher 15-Liter-Frunk bietet Platz für Kabel) und ist mit einer fummelig, aber doch zu öffnenden Klappe vom Innenraum abgetrennt. Lässt man sie offen, sieht man durch den Innenspiegel sogar durch – solange die Heckklappe offen ist.
Eine Scheibe statt des Blechs im Kofferraumdeckel hätte also nicht geschadet. Zwar würde man nicht wahnsinnig viel sehen, aber doch deutlich mehr als nichts.
Inoffizielle Begründung: Polestar will auffallen, sich ins Gespräch bringen und polarisieren. Besser man spricht kontrovers darüber als gar nicht, lautet die Devise. Die Marke sieht sich selbst als schwedisch, wird von vielen aber als chinesisch wahrgenommen, weil sie wie die Mutter-Marke Volvo unter der Ägide von Geely läuft.
Ohne Not die Heckscheibe wegzulassen, ist schlicht und ergreifend idiotisch.
Stephan Schätzl
Digitaler Innenspiegel soll helfen
Damit der Blick in den Innenspiegel nicht auf den Rücksitzen endet, kann man zwischen der Spiegel- und einer Displayansicht umschalten, die das Bild einer Heckkamera zeigt. Diese soll angeblich bei jeder Witterung und bei allen Lichtverhältnissen problemlos arbeiten. Bei den Testfahrten konnten wir das mangels Schlechtwetter nicht überprüfen.
Das Problem ist aber weniger die möglicherweise anfällige Kamera, sondern der Bildschirm an sich. Der ist zumindest für Träger einer Gleitsichtbrille völlig nutzlos, weil er dafür viel zu nah an den Augen platziert ist. Auch andere Brillenträger dürften sich schwertun.
Da Altersweitsichtigkeit ein weit verbreitetes Phänomen ist und zumeist in einem Alter auftritt, in dem sich potentielle Kunden einen Polestar 4 möglicherweise erst leisten können, ist es also ein eher kurzsichtiger Plan, mit Digi-Spiegel statt Heckscheibe Kunden gewinnen zu wollen.
Die Preise
Ab 59.990 Euro steht der Hecktriebler in der Preisliste. Der Allradler kostet 8000 Euro mehr, bietet dafür aber auch unter anderem das Adaptivfahrwerk und die Möglichkeit, das Performance-Paket (u.a. mit größeren Brembo-Bremsen) zu ordern.
Sonst ist die Ausstattung im Wesentlichen identisch (samt Adaptivtempomat bis 150 km/h etc.) und es stehen die gleichen Optionspakete zur Verfügung. So bringt beispielsweise das Pilot-Paket u.a. den Spurführungsassistenten (nur bis Tempo 130), das Plus-Paket u.a. Head-up-Display, Matrix-Scheinwerfer, 22-kW-Laden oder Sitzheizung hinten. Letztlich lässt sich alles ordern, was das Herz begehrt – außer einer Heckscheibe.
Fahrzit
Der Polestar 4 ist eigentlich ein rundum gelungenes, sportlich orientiertes Elektro-SUV-Coupé, das das Line-up im D-Segment bereichert. Klar, mit der Touch-only-Bedienung muss man klarkommen, aber das geht mit etwas Eingewöhnung. Wie anderswo auch. Mit der fehlenden Heckscheibe ist das etwas anderes. Da hat man einfach etwas Sicherheitsrelevantes weggelassen, ohne dass dafür eine Notwendigkeit bestanden hätte. Das ist in meinen Augen einfach nur sinnlos.
Warum?
Bildschönes Elektro-SUV
Top-Fahreigenschaften
Warum nicht?
Auf eine Heckscheibe zu verzichten, ist komplett sinnlos.
Oder vielleicht …
… Audi Q6 e-tron, BMW iX3, Tesla Model Y
Kommentare
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