Volksoper Wien

Wie man 30 Post-its zum Fliegen bringt

Kultur
19.09.2024 06:00

INTERVIEW Volksopern-Chefin Lotte de Beer spricht zum Saisonstart über ihren „Carmen“-Versuch Nr. 2, der am Samstag Premiere hat, Kinder-Chorträume und wie man am besten neues Publikum angelt.

Kronenzeitung: Wie war der Sommer? 
Lotte de Beer: 
Es war das erste Mal, soweit ich mich erinnern kann, dass ich keine Arbeit hatte. Ich hatte viel Zeit, um Ferien zu machen. Ich musste mich erst daran gewöhnen, aber am Ende habe ich gedacht: Ach ist das schön!

Wo haben Sie ihren Urlaub verbracht? 
An ganz vielen Orten. Ich war in Holland, in Zeeland, und habe dort mit meiner Mama, meiner Tochter und meiner Cousine Fahrradferien gemacht. Ganz niederländisch hat es die ganze Zeit stark geregnet, war aber trotzdem herrlich. Dann bin ich in der Schweiz auf Pferden geritten, und war auf einer Traumhochzeit in der Toskana eingeladen.

Haben Sie sich auch Sommertheater angeschaut, oder eine Kulturpause eingelegt? 
Ich war bei den Festspielen in Salzburg und in Aix-en-Provence und habe mir einige Vorstellungen von Mitgliedern unseres Hauses angesehen.

Lotte de Beer auf dem Dach der Volksoper (Bild: © Barbara Pálffy / Volksoper Wien)
Lotte de Beer auf dem Dach der Volksoper

Holen sie sich im Sommer auch Inspiration? 
Ja! Es ist herrlich, wenn man ungestört träumen kann, ohne dass die nächste Krise an die Türe klopft. Ich kann natürlich auch während der Saison über die nächsten Projekte nachdenken, oder überlegen, was Deborah Warner hier inszenieren soll. Doch wenn es plötzlich heißt, der Tamino hat für heute abgesagt, sind die Prioritäten natürlich klar.

Im Urlaub konnte ich lesen, hören, reflektieren und nachdenken, mich mit Künstlern austauschen. Ich habe fast 30 neue Projekte auf Post-its geschrieben, die ich irgendwann gerne realisieren möchte.

Nachgefragt

Worauf freuen Sie sich in der kommenden Saison am meisten? Ich freue mich riesig auf „Im weißen Rössl“ inszeniert von Jan Philipp Gloger. Er macht das ein bisschen provokant, richtig lustig, spielt mit allen Klischees. Und wenn Robert Palfrader und Harald Schmidt gemeinsam auf einer Bühne stehen, ist das Österreich gegen Deutschland.

Worauf freuen sie sich in den anderen Häusern besonders?

Auf „Don Carlo“ in der Staatsoper. Das ist mein absolutes Lieblingsstück. Außerdem inszeniert Kirill Serebrennikov. Für uns sind Diktaturen natürlich weit weg. Aber Serebrennikov war unter Hausarrest in Russland, er hat „Don Carlo“ gelebt.

Wenn sie alles Budget der Welt hätten, was wäre Ihr Traum?

Ich würde gerne ein Björk-Musical auf die Bühne bringen. Vielleicht einen Volksopern-„Ring des Nibelungen“, aber dann ganz anders. Aber vor allem würde ich unbedingt – und vielleicht lesen jetzt Sponsoren mit – unseren großartigen Kinderchor vergrößern. Weitere Kinder erreichen, auch solche, deren Eltern nicht wissen, dass es die Volksoper gibt. Ich möchte gerne die Talente aus allen Bezirken holen, damit sie bei uns mitmachen können. Denn es ist wichtig, dass wir Kultur für alle öffnen.

Was steht auf den Post-its? Wenn ich eine Aufführung unter Rafael Pichon in Aix erlebe, denke ich, sollen wir nicht auch Alte Musik spielen. Ich habe ein Buch über die berühmte Brücke in Mostar gelesen, und mir überlegt, welche bosnischen Künstler gibt es, mit denen wir ein Projekt realisieren könnten?

Oder der Teenager-Sohn von einem Freund hört sich Musik an, die ich nicht kenne. Da denkt man daran, dass auch Verdi einst brandaktuell war und überlegt, welche neuen Volksopernstücke sollten wir eigentlich machen. Oder bei einem Spaziergang wird der Kopf frei, und plötzlich kommt die Idee zu einem King Lear Projekt.

Man muss auf den ersten Blick absolut Unrealistisches versuchen. Irgendwann fällt es entweder auf den Boden – oder es fängt an zu fliegen!

Sie haben ganz viel junges Publikum, rund 25 Prozent sind unter 30 Jahren. Was wollen die am liebsten sehen? 
Natürlich Musical, und beim klassischen Repertoire gehen bei ihnen am besten „Die Fledermaus“, „La traviata“ und „Zauberflöte“. Und ich denke dann: Leute! Das ist wirklich super, aber kommt doch nicht nur in das, was man schon kennt. Was sie brauchen, ist eine ausgestreckte Hand. Man muss ihnen klarmachen, wir sind für euch da, ihr braucht kein großes Wissen, es ist spannend und leistbar. Dann kommen sie schon.

Premiere ist am Samstag: Katia Ledoux (Carmen), Chor der Volksoper Wien (Bild: © Barbara Pálffy / Volksoper Wien)
Premiere ist am Samstag: Katia Ledoux (Carmen), Chor der Volksoper Wien

Welche Publikumsschichten fehlen noch? 
Es gibt ganz viele, die wir gerne noch ansprechen wollen. Es gab etwa einen Austropop-Abend im Foyer, eine Initiative von Ensemblemitgliedern. Und plötzlich kamen unsere Techniker als Zuschauer. Das habe ich so noch nie erlebt. Das ist offenbar ein Genre, das neues Publikum anzieht, also kann man vielleicht einen großen Musiktheaterabend daraus machen. Mit einer Geschichte und vielleicht der philosophischen Frage, was ist eigentlich die österreichische Identität.

Sie sind also immer auf der Suche nach Neuem? 
Wir haben die Aufgabe, die alten Schätze zu bewahren, brandaktuell zu machen, aber wir müssen auch in die Zukunft investieren und Stücke für das Jetzt produzieren. Wenn wir an neue Stücke denken, denken wir doch nicht immer ausschließlich an klassische zeitgenössische Musik, die für viele eher eine intellektuelle Konnotation hat, zu der sie schwer Zugang finden. Um unterschiedliche neue Geschichten zu erzählen, braucht es viele musikalischen Zugänge.

Deshalb hatte wohl auch „Lasst uns die Welt vergessen - Volksoper 1938“, wo die originale Operettenpartitur mit zeitgenössischer Musik verflochten wurde, eine so irre Resonanz. Wir denken daher an ein Nachfolgestück über die queere Geschichte von Wien nach.

Auch beim neuen Familienstück „Nurejews Hund“ werden wir Ballettmusik aus „Schwanensee“ mit instrumentierter Popmusik und neuer Musik verbinden. Oder vielleicht kann man den belgischen Musiker Stromae für ein Musiktheaterstück gewinnen? Der schreibt so theatralisch.

Lotte de Beer inszeniert zum zweiten Mal Bizets „Carmen“ (Bild: Volksoper / DAVID PAYR)
Lotte de Beer inszeniert zum zweiten Mal Bizets „Carmen“

Die erste Premiere der Saison gilt „Carmen“. Sie inszenieren selbst. Was lässt sich noch Neues über Carmen erzählen? 
„Carmen“ ist ein absoluter Hit, jeder will es hören. Es ist ein musikalisches Meisterwerk. Wenn man jedoch Carmen psychologisch zu analysieren versucht, läuft man irgendwann gegen eine Wand. Denn sie ist natürlich eine Figur aus dem 19. Jahrhundert, die eine Funktion hat: Die Bourgeoisie schaut auf eine sehr freche, sexuell sehr radikale, sehr freie Frau – die am Ende stirbt. 
Das ist der Schlüssel. Sie versteht irgendwann, dass ihre einzige Funktion ist, zu sterben. Ich möchte das metaphorisch inszenieren: Carmen ist die einzige Figur, die glaubt, sie durchschaut das Spiel, um am Ende aber davon aufgefressen zu werden. Mit diesem Konzept kann man auch eine Welt bauen, die mit bemalten Hintergründen, mit Tanz, mit exotischen farbigen Kostümen agiert – und damit spielen.

Ist es ihre erste „Carmen“? Nein, ich habe eine schlechte Erfahrung mit „Carmen“ gemacht, bin mit meiner ersten Inszenierung vor fünf Jahren total gescheitert. Deshalb wollte ich das Stück eigentlich nicht machen. Aber ich denke, das Haus braucht diese Oper, das Publikum braucht sie und die Sänger auch.

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