Scheideweg für Ukraine

Was darf Kiew? Die nächsten Stunden entscheiden

Außenpolitik
24.09.2024 20:35

In New York kommt ab Dienstag alles zusammen, was politisch Rang und Namen hat. Für die Ukraine sind die Fallhöhen in der Wolkenkratzer-Metropole enorm. Der Knackpunkt: Darf Kiew westliche Raketen auf russische Ziele fernab der Frontlinien richten? Mächtige Verbündete zögern, während andere den Aufstand proben.

Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz wirkt zunehmend irritiert: Reichweitenbeschränkungen für deutsche Raketen sollen in der Ukraine nicht aufgeweicht oder gar aufgehoben werden. Im Vorfeld der UNO-Generaldebatte in New York wählte er Worte, die einer Ohrfeige gleichkamen. Scholz zog am Dienstag die Sinnhaftigkeit der Raketen-Debatte in Zweifel.

„Klar ist auch, dass wir bei unserer Unterstützung immer sehr fokussiert sind, was wirklich hilft und was notwendig ist“, erklärte der angeschlagene SPD-Chef vor Reportern. Strategisch wichtige Ziele auf russischem Territorium mit weitreichenden westlichen Waffen zu treffen, gehört für ihn offensichtlich nicht dazu. „Das ist mit meiner persönlichen Haltung nicht vereinbar.“

Scholz kündigt bisherige Maxime auf
Bisher galt das Credo „im Gleichzug mit den USA und anderen Verbündeten“. Auf Nachfrage kündigte Scholz diese politische Maxime auf: „Wir werden das nicht machen!“ Dafür hätte Deutschland „gute Gründe“. Frankreich und Großbritannien sehen das gänzlich anders, die Frage droht den Westen zu zerreißen.

Sein gesamtes Statement im Video: 

In den kommenden Stunden wird der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj Scholz vom Gegenteil überzeugen müssen, nichts anderes wird in seiner Heimat von ihm erwartet. Langstreckenraketen sind dem Vernehmen nach ein essenzieller Teil seines „Siegesplans“, den er in den vergangenen Wochen kryptisch ankündigte.

In New York wird er neben Scholz auch auf US-Präsident Joe Biden treffen, der in der Frage noch zögert. Bisher darf Kiew die Waffen nur gegen „unmittelbare Gefahren“ richten. Grünes Licht aus den USA gilt unter politischen Beobachtern als Dosenöffner in der Frage. Zur Erinnerung: Deutschland lieferte zu Beginn des Konflikts lediglich Helme an Kiew – und davon nur sehr wenige.

Selenskyj weilt aktuell in New York City. (Bild: AFP/TIMOTHY A. CLARY)
Selenskyj weilt aktuell in New York City.

Selenskyj muss Überzeugungsarbeit leisten
„Wir sind dabei, unsere Partner zu überzeugen und werden das auch (...) fortsetzen, dass die Ukraine eine vollwertige Reichweitenfähigkeit benötigt“, sagte Selenskyj kürzlich.

Die Außenminister der G7-Staaten wollen über Lieferungen von Raketen mit längerer Reichweite an die Ukraine beraten. Das teilte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell am Rande der UNO-Generaldebatte mit. Zudem sei klar, dass Russland neue Waffen erhalte – darunter auch iranische Raketen, obwohl Teheran dies wiederholt bestritten habe. Hier droht zunehmend ein Ungleichgewicht zugunsten von Wladimir Putins Truppen.

Brüssel stellt sich gegen Scholz
Vergangenen Donnerstag sprach sich auch das EU-Parlament mehrheitlich für eine Lieferung von Waffen mit hoher Reichweite aus. In einer Resolution wurde gefordert, westliche Waffen gegen legitime militärische Ziele in Russland einzusetzen. Die derzeitigen Regelungen würden Kiews Recht auf Selbstverteidigung einschränken. Bevölkerung und Infrastruktur blieben russischen Angriffen ausgesetzt. 

Die österreichischen Abgeordneten von ÖVP, SPÖ und Grünen enthielten sich bei der Abstimmung. Nur die NEOS waren dafür, die FPÖ stimmte geschlossen mit Nein.

Was ist eine Resolution?

  • Dabei werden Schlussfolgerungen oder Entschließungen erstellt, um Ziele festzulegen oder Fortschritte zu bewerten.
  • Entschließungen sind rechtlich nicht verbindlich, sondern von politischer Bedeutung.
  • Eine Resolution baut Druck auf und ist ein wichtiges Mittel, um die verantwortlichen Institutionen in die Pflicht zu nehmen.

Was könnten Langstreckenraketen bewirken?
Ukrainische Tiefschläge innerhalb Russlands wären Militärexperten zufolge für Kiew strategisch enorm wichtig. Essenzielle militärische Einrichtungen wie Munitionslager oder Flugplätze könnten mithilfe westlicher Aufklärung effektiver ins Visier genommen werden. Tiefe Schläge würden die russischen Truppen zwingen, ihre Lager zu dezentralisieren. Damit wird die Logistik erheblich erschwert und der Vormarsch der Russen mittelfristig gebremst, lautet eine Theorie.

Warum ist das also noch nicht passiert? In einem Wort: Furcht. Bisher haben sich zwar alle angedrohten „Roten Linien“ von Wladimir Putin als Bluffs erwiesen, dennoch scheut vor allem Washington einen Kipppunkt. 

Das Weiße Haus quält die Perspektive, berichten Insider, dass Hardliner im Kreml darauf bestehen könnten, als Vergeltung Transitpunkte für Raketen auf dem Weg in die Ukraine anzugreifen. In diesem Zusammenhang werden Ziele in Polen genannt. Ein direkter Konflikt soll verhindert werden.

Aber auch niedrigere Eskalationsstufen bereiten Sorge: Was, wenn durch die Freigabe dieser Langstreckenwaffen russische Sabotageattacken in Europa und den USA zunehmen? Was, wenn der Kreml aus Rache dem Iran nukleares Know-how zur Verfügung stellt?

Nehmen gefährliche Verzweiflungstaten zu?
Die Ukraine zeigte in der jüngsten Vergangenheit eindrucksvoll, dass Schläge innerhalb des russischen Territoriums nicht unbedingt eine Eskalation mit dem Kreml provozieren. Die Sorge besteht dennoch, dass Kiew zu immer drastischeren Mitteln greift, um eine Entscheidung zu seinen Gunsten zu erzwingen. Der Überfall auf die russische Region Kursk könnte hier ein Vorgeschmack gewesen sein. 

In den vergangenen Tagen gelang es der Ukraine durch spektakuläre Drohnenangriff Munitionslager tief hinter den feindlichen Linien in die Luft zu jagen. Ein eindrückliches Beispiel aus der Region Krasnodar: 

Doch selbst wenn die größten westlichen Verbündeten russisches Territorium öffnen würden, bleibt das Problem der Stückzahl. Die genaue Verfügbarkeit von Raketen ist geheim. Feststeht: Der Vorrat ist begrenzt, und der Ukraine mangelt es an allen Typen. Für Selenskyj könnten die Voraussetzungen kaum schlechter sein. In seiner Heimat wird er an den nächsten Stunden gemessen werden. So viel weiß man ...

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