Vorarlberg ist das „Land des Ehrenamts“. In seiner neuen Serie holt der Autor Robert Schneider Menschen vor den Vorhang, die sich für andere engagieren – so wie Yener Polat.
Vergangenen März musste er raus aus den Probenräumlichkeiten in der Bregenzer Kirchstraße. Das Land Vorarlberg meldete eine dringliche Sanierung und Eigenbedarf an. Für Yener Polat war das ein großer Wermutstropfen, feiert sein Herzenskind, der interkulturelle Verein „Motif“, doch im kommenden Jahr sein 20-jähriges Bestehen. Ein geeignetes Probelokal konnte bislang nicht gefunden werden, obwohl Polat immerhin mit dem österreichischen Integrationspreis 2022 ausgezeichnet wurde und mit dem Outstanding Artist Award für Kulturinitiativen des Bundes. Ich treffe den 61-Jährigen in den Räumlichkeiten von VINDEX in der Römerstraße, dem Verein zur Förderung von Konventionsflüchtlingen. Dort hat Yener, der mir sofort das Du-Wort anbietet, eine provisorische Bleibe gefunden, ein winziges Büro mit einem Tisch, auf dem gerade mal der Computer Platz findet. Der für sein Alter sehr sportlich wirkende Mann erweckt jedoch weder einen bitteren noch resignierten Eindruck. „Es wird weitergehen, das habe ich von meinem Vater gelernt“, fängt er an zu erzählen.
Ohne Umschweife breitet er vor mir seine Lebensgeschichte aus, die von einer wunderschönen Kindheit und deren abruptem Ende geprägt ist. Geboren wurde er in der türkischen Kleinstadt Artvin, die im äußersten Nordosten des Landes liegt, an der Grenze zu Georgien. Die Stadt schmiegt sich an einen bewaldeten Bergrücken, dahinter erheben sich teils schneebedeckte Bergmassive. „Als ich nach Vorarlberg gekommen bin und zum ersten Mal den Bregenzerwald gesehen habe, war ich hin und weg. Ich dachte: Das kann nicht sein! Die Landschaft erinnerte mich sofort an meine Heimat. Es war unglaublich.“
Das abrupte Ende einer unbeschwerten Kindheit
Sein Vater, der schon lange tot ist, war Schuhmacher und Ledergerber gewesen. Die älteste Schwester Lehrerin. Ein Beruf, den auch Yener später ergriffen hat und bis heute ausübt. „Ich bin als kleiner Pimpf mit meiner Schwester von Schule zu Schule gezogen. Das war eine wunderschöne Zeit. Eines Tages riss bei einem gewaltigen Gewitter eine Mure unser Haus weg. Alles, was mein Vater aufgebaut hatte, war in wenigen Sekunden verloren. Versicherungen gab es keine. Wir waren an dem Tag zum Glück nicht im Haus, weshalb niemand von der Familie zu Schaden kam. Wir fanden in einer Art Stall eine Notunterkunft. Oben zwei Zimmer, unten das Vieh.
Aber mein Vater ließ sich nicht unterkriegen und meinte, dass das nur stärker mache. Er hatte recht. Solche Dinge, wenn man für etwas kämpfen muss, geben einem wirklich Kraft, auch für das spätere Leben. Das ist bei mir bis heute so. Mein Vater suchte also eine neue Arbeit und fand sie im Bergbau, 1500 Kilometer von Artvin entfernt. Ich ging aufs Gymnasium, und in Ankara habe ich dann Lehramt studiert. Daneben habe ich gearbeitet und mich sozial engagiert. Dieses Engagement habe ich vielleicht von meinem Opa mitbekommen, der 100 Jahre alt wurde. Er kannte noch Kemal Atatürk persönlich, unseren großen Reformer. Wir waren leidenschaftliche Sozialdemokraten. Daneben trieb ich viel Sport, war Fußballschiedsrichter. Schiri bin ich dann auch lange in Vorarlberg gewesen.“
Der Liebe wegen nach Vorarlberg gezogen
Wie es dazu kam, dass er hier Fuß fasste, will ich wissen. „Ich habe damals an einem Urlaubsstrand am Marmarameer eine Taverne geleitet, obwohl ich viel zu jung dafür war. Aber kreativ war ich, das in jedem Fall. Dort lernte ich ein Mädchen kennen, das, wie man hier sagen würde, aus der zweiten Generation der Gastarbeiter stammte, eine Türkin, die mit zehn Jahren nach Vorarlberg gekommen ist. So verschlug es mich im Jahr 1988 nach Vorarlberg.“ Ob ihm die Integration schwergefallen sei, frage ich Yener. „Mein Glück war, dass ich sofort in einem Fußballverein unterkam. Außerdem war ich Schiedsrichter in der damals noch existierenden Wälderliga, obwohl ich kein Wort Deutsch verstand. Aber egal. Die Regeln sind dieselben. Bis mich nach drei Jahren der Fußballverband zu sich zitierte. Die fragten, ob ich ein Problem habe und sagten: ’Du hast in den ersten zwei Jahren nur fünf Rote Karten gezeigt und jetzt, nach der dritten Runde, schon zehn Rote Karten. Was ist los mit dir?’ Daraufhin antwortete ich: ’Das kann ich euch erklären: Ich weiß jetzt, was alle Schimpfwörter bedeuten.’“
Die Türen zur weiten Welt der Kultur öffnen
Die Rede kommt auf den Verein „Motif“, dessen Gründer, künstlerischer Leiter und Obmann Yener Polat ist. Ich erkundige mich nach den Aufgaben und Zielen, die sich der Verein gestellt hat. „Ich war schon als junger Mann in der Türkei von Musik, Kunst und Theater besessen, hatte auch sehr viele Kontakte. Mich interessierte hier in Vorarlberg vor allem, den türkischstämmigen Menschen einen Zugang zur Kultur zu ermöglichen.
Mein Baum hat lange und weite Wurzeln. Natürlich habe ich immer noch Freunde in meiner alten Heimat. Wir sehen uns oft. Aber meine Kinder sind Vorarlberger und empfinden sich auch so.
Yener Polat
Durch meine zahlreichen Kontakte in der Heimat war es mir möglich, Künstler hierher einzuladen. Keine großen, kostspieligen Produktionen. Ich sammle kleines Holz. Dafür aber beharrlich, schon über 20 Jahre lang. Eines meiner schönsten Erlebnisse war, als wir im Jahr 2003 am Landestheater ein Gastspiel mit der in der Türkei damals berühmten Schauspielerin Yildiz Kenter veranstalteten. Das Theater war rappelvoll bis auf den letzten Platz. Und was mich besonders berührt hat: Die Hälfte aller Menschen, die an diesem Abend kamen, hatte noch nie ein Theater besucht. Aber sie zahlen hier auch Steuern und finanzieren die Kultur mit. Nun wollte ich nicht nur Organisator sein, sondern auch Kindern und jungen Menschen ein Forum bieten, Workshops, wo sie sich ausdrücken und darstellen können. Das hängt natürlich auch mit meinem Beruf des Lehrers zusammen. Ich verstehe mich als Gärtner. Narzissen pflanzt man im September. So können sie vor dem ersten Frost längere Wurzeln bilden. Wie schön ist es dann, wenn sie im Frühjahr zu blühen beginnen.“
Ob er hier eine Heimat gefunden hat, lautet meine letzte Frage an Yener Polat. „Mein Baum hat lange und weite Wurzeln. Natürlich habe ich immer noch Freunde in meiner alten Heimat. Wir sehen uns oft. Aber meine Kinder sind Vorarlberger und empfinden sich auch so. Meine Tochter, die in Innsbruck studierte, sagte einmal zu mir: ’Papa, für die bin ich eine Gsibergerin.’ Gibt es ein schöneres Kompliment für Integration?“
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