Was bedeutet das?

Ihr Gott ist tot: Hisbollah droht Organversagen

Ausland
28.09.2024 19:12

Israel ist mit der Tötung von Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah ein historischer Coup gelungen. Der Schlag könnte zu einem multiplen Organversagen führen. Denn: Für die Terrormiliz geht es jetzt um das blanke Überleben – und dem Libanon drohen noch düstere Zeiten.

Als am Freitagabend in einem südlichen Vorort von Beirut ein Wohnkomplex von einem dichten Feuerball verschlungen wird, ist schnell klar: Dieser Angriff war anders als sonst. Die mittlerweile sichtbaren Krater zeugen von einer kompromisslosen Brutalität. Die historische Schwere wurde bekannt, noch bevor sich die dichten Rauchschwaden über Beirut verzogen. 

Stirbt mit Nasrallah die Hisbollah?
Israel konnte den Aufenthaltsort von Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah lokalisieren und ihn töten – wie sich Stunden später herausstellte. Was als lokaler Luftangriff anfing, wurde zu einem Donnerschlag für den gesamten Nahen Osten. Der mächtigste Mann im Libanon, den seine Anhänger als unverwundbar feierten, wurde unter Schutt und Asche begraben. Doch stirbt mit ihm auch die Schiiten-Miliz?

Durch jahrelange Infiltration und minutiöse Geheimdienstarbeit ist es Israel innerhalb weniger Tage gelungen, die Terroristen der Hisbollah ins Chaos zu stürzen. Ihre Kommandeure wurden in Serie getötet, ihre Pager und Funkgeräte vom Mossad gesprengt. Der größten Terror-Armee des Nahen Ostens wurde kurzerhand der Kopf abgetrennt.

Der riesige Krater an der Einschlagstelle  (Bild: AFP/ANWAR AMRO)
Der riesige Krater an der Einschlagstelle 

Und das Herz? Um Nasrallah wurde ein Mythos aufgebaut. Der schiitische Geistliche trug den schwarzen Turban, der ihn als „Sayyed“, als einen direkten Nachfahren des Propheten auswies. Teilweise wurde er sogar als Nummer Zwei hinter Irans oberstem Führer Ali Chamenei betrachtet.

Iran baute auf Hisbollah-Chef
Für Teheran war Nasrallah ein wichtiger Stratege. Er baute im Libanon einen Staat im Staat auf. Demokratische Strukturen und Institutionen wurden von ihm de facto aufgelöst. Seit seiner Übernahme 1992 wurde die Hisbollah von einer lokalen Organisation zu einer international gefürchteten Terror-Miliz. Er war Taktgeber für Millionen Menschen, die an eine neue islamistische Weltordnung glaubten – weit über die Grenzen des Libanon hinaus.

Öffentliche Auftritte waren in den vergangenen Jahren sehr rar. (Bild: AFP/HASSAN AMMAR)
Öffentliche Auftritte waren in den vergangenen Jahren sehr rar.

Israels langer Arm trieb Nasrallah jedoch in die Isolation. In den vergangenen Jahren trat er in der Öffentlichkeit nur mehr per Videobotschaften auf. Und trotzdem: Seine Worte zogen die schiitische Welt in ihren Bann. 1960 kam er als neuntes von zehn Kindern eines Obst- und Gemüsehändlers zur Welt, 2024 hatte Nasrallah Gott-ähnlichen Status.

Mobilfunkgeräte brandmarkte er als die „Agenten Israels“, seit mehr als 15 Jahren haben seine Techniker zudem ein riesiges Glasfasernetz für das hauseigene Hisbollah-Festnetz verlegt. Seine Kommunikation war darauf ausgelegt, im Verborgenen zu bleiben. Der jüdische Staat erwischte ihn am Ende trotzdem. Dem Vernehmen nach hielt er sich seit Jahren in Dahieh auf, dem dicht besiedelten Schiitenviertel im Süden Beiruts, wo Israel auch ein Hauptquartier der Hisbollah vermutete. 

Die Tragweite der Nasrallah-Tötung ist enorm
Der Chefredakteur der libanesischen Zeitung „L‘Orient Le Jour“, Anthony Samrani, schrieb, die Tötung sei noch bedeutender als die von Irans Top-General Qassem Soleimani 2020 und die von 9/11-Drahtzieher Osama bin Laden.

„Er war unser Bin Laden mal zehn. Mehr als 30 Jahre lang tötete er unsere Zivilisten, während er anderen Terrororganisationen zugleich half, besser darin zu werden, uns zu töten“, schrieb Nadav Pollak, Dozent an der israelischen Reichman-Universität.

Der „Spiegel“ berichtet von einer lähmenden Paranoia, die nun in Nasrallahs Terrorverband um sich greift. Der Grund: Israels gespenstische Durchdringung der eigenen Ränge durch Spione und technische Ausspähung: „Jeder misstraut jetzt jedem. Wer ist Spitzel?“, berichtete ein Hisbollah-Kommandeur bereits im April.

Wer wird sein Nachfolger?
Jetzt geht es um das blanke Überleben. Ohne Chef und nach Tötung fast der gesamten oberen Führungsebene ist unklar, wer innerhalb der Hisbollah jetzt die Kommandos geben könnte, auch bei weiteren Angriffen auf Israel. Die Schutzmacht Iran ist derzeit damit beschäftigt, die eigene Führungsriege in Sicherheit zu bringen. Israels Attacken haben die gesamte Region in Angst und Schrecken versetzt.

Ein Name für die Nachfolge ist schon im Umlauf: Hashim Safieddine, Chef des Hisbollah-Exekutivrats, gilt als aussichtsreichster Kandidat. Er ist ein Cousin Nasrallahs und Vater vom Schwiegersohn des mächtigen iranischen Generals Qassem Soleimani, der 2020 im Irak durch einen US-Drohnenangriff getötet wurde.

Der heute 60-jährige Safieddine soll schon seit den 1990er-Jahren auf eine Führungsrolle innerhalb der Hisbollah vorbereitet worden sein. Laut arabischen Medienberichten war er zuletzt unter anderem für finanzielle Fragen und tägliche Abläufe innerhalb der Miliz zuständig.

Dem Libanon drohen noch düstere Zeiten
Im Libanon, der seit zwei Jahren ohne Präsident und faktisch ohne Regierung ist, entsteht durch Nasrallahs Tod ein Machtvakuum. Es gibt vorerst keine Anzeichen aus dem Iran, dass dieser als wichtigster Unterstützer der Hisbollah die Lücke schließen will.

Möglich scheint deshalb auch ein neuer Machtkampf anderer Gruppierungen in dem konfessionell stark gespaltenen Land. Gegner der Hisbollah dürften jetzt eine einmalige Chance sehen, die Strukturen der Miliz innerhalb des Staats dauerhaft zu zerlegen und eine stärkere Kontrolle der Regierung wiederherzustellen.

Es könnte zu einem größeren Zusammenbruch der Sicherheit im Land kommen, zu neuen konfessionellen Konflikten und insgesamt chaotischen Zuständen. Das Land am Mittelmeer erlebte von 1975 bis 1990 bereits einen blutigen Bürgerkrieg. Die Hisbollah hinterließ in der Nähe des Todesorts von Anführer Nasrallah eine klare Botschaft an potenzielle Widersacher. Zwischen Ruinen steht auf einem Banner laut Reportern vor Ort: „Hisbollah lebt.“

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