Wiens Vizebürgermeister und Bildungslandesrat Christoph Wiederkehr (NEOS) ortet einige „Bildungsbaustellen“. Neben dem Ausbau von ganztägigen Betreuungs- und Bildungsangeboten würde er gerne den in Wien bereits erprobten Chancenindex, der mehr Ressourcen an Brennpunktschulen vorsieht, in ganz Österreich einführen.
„Krone“: Herr Landesrat, wären Sie Bildungsminister, was wäre Ihre erste Amtshandlung?
Christoph Wiederkehr: Ich halte es für extrem wichtig, dass es wieder einen Bildungsminister gibt, der Visionen hat. Die vergangenen Jahre ist, obwohl Reformen dringend notwendig gewesen wären, nichts vorwärtsgegangen. Ganz wichtig wäre eine Offensive bei den ganztägigen Betreuungs- und Bildungsangeboten. Das ist nicht nur für jene Eltern notwendig, die Beruf und Familie vereinbaren müssen. Ganztagsschulen garantieren auch eine gelungene Bildungslaufbahn und tragen zum Spracherwerb bei.
Die Zahl der schulpflichtigen Kinder, die die deutsche Sprache nicht beherrschen, ist auch in Vorarlberg enorm. Was ist zu tun?
Mit der Sprachförderung muss bereits im Kindergarten begonnen werden. In Wien wurde das Budget massiv aufgestockt, damit der Übergang in die Volksschule besser funktioniert. Dennoch gibt es einige Kinder, die kein Deutsch sprechen.
Trotz eines verpflichtenden Kindergartenjahres?
Das ist zu wenig. Für diese Zielgruppe wäre ein zweites Jahr notwendig.
Die Lösung wäre statt Schulbesuch ein zweites verpflichtendes Kindergartenjahr?
Nein, denn es gibt ja eine Schulpflicht. Für Kinder, die speziellen Sprachförderbedarf haben, sollten die Mittel massiv aufgestockt werden – und das bundesweit. Ein anderer Ansatz wäre, die Sommerferien zu nutzen. Die Kinder haben neun Wochen Sommerferien. Viel Zeit, in der sie lernen und sich auf das Schuljahr vorbereiten könnten. In Wien haben wir deshalb 2023 erstmals die Sommer-Deutschkurse eingeführt.
Die aber nicht verpflichtend sind?
Nein, das ist gesetzlich nicht möglich. In diesem Sommer haben 3000 Kinder diese Kurse besucht. Für das zweite Jahr ist das ein ganz ordentlicher Wert. Ich sehe allerdings auch, dass die Eltern jener Kinder, die den Deutschkurs dringend benötigen würden, nicht mitziehen. Das sind Mütter und Väter, die neun Wochen lang lieber Urlaub in der Heimat machen. Das ist den Kindern gegenüber nicht fair. Und darum bin ich auch für eine bundesgesetzliche Änderung, die vorsieht, dass außerordentliche Schüler zumindest zwei Wochen verpflichtend an den Sommer-Deutschkursen teilnehmen.
Wie sollen Probleme an Brennpunktschulen gelöst werden?
Unser Konzept in Wien basiert auf dem Chancenindex, den es bereits in verschiedenen Ländern gibt. Schulen mit besonderen Herausforderungen – also solche, mit vielen Kindern, die kein oder nur wenig Deutsch sprechen, oder an denen es viele Eltern mit einem niedrigen Bildungsabschluss gibt – müssen mehr Ressourcen erhalten. Mit den zusätzlichen finanziellen Mitteln können dann beispielsweise Klassen verkleinert oder mehr Sozialarbeiter an die Schule geholt werden. Für die Ballungsräume in ganz Österreich braucht es mehr Mittel.
Wäre es nicht sinnvoll, die Bildungsagenden auf Bundes- oder Landesebene zusammenzufassen?
Ja, bitte! Als zuständiger Bildungslandesrat bin ich sehr dafür, den Föderalismus in Österreich neu zu stricken. Ich hätte auch gar nichts dagegen, wenn ich am Ende keine Aufgaben mehr hätte, es dafür aber eine klare Kompetenzverteilung gäbe. Das Hauptproblem im Bildungsbereich sind in Österreich die parteipolitisierten Bildungsdirektionen mit mehreren politischen Verantwortlichen auf Bundes-, Landes- und Gemeindeebenen. Das sind definitiv zu viele Player.
Wo wünschen Sie sich die Kompetenzen?
Das sollte ergebnisoffen diskutiert werden. Mein Ansatz wäre, aus den Bildungsdirektionen wirklich aus der Parteipolitik herausgehaltene Einrichtungen zu machen. Zudem sollten die einzelnen Aufgaben und Zuständigkeiten hinterfragt werden. Bis heute ist beispielsweise nicht geklärt, wer für Sozialarbeit an Schulen zuständig ist. Das ist problematisch, weil diese Aufgaben nicht mit der entsprechenden Verantwortung wahrgenommen werden.
Welche Aufgaben sollen die Gemeinden haben?
Eine Gemeinde, die für Sozialraumplanung zuständig ist, muss immer eine Rolle spielen. Dass die Gemeinde für den Bau und den Erhalt von Mittelschulen zuständig ist, der Bund aber für Gymnasien, ist nicht logisch. Das gehört in eine Hand.
Welche Rolle fällt dem Bund zu?
Jene der zentralen inhaltlichen Steuerung. Auf Bundesebene muss ein klarer Rahmen erstellt und Lehrpläne entrümpelt werden. Zugleich sollte mehr auf Schulautonomie gesetzt werden. Damit könnten bei den Bildungsdirektionen Ressourcen eingespart werden, die dann direkt an die Schulen gehen.
Ist die auch in Vorarlberg viel diskutierte gemeinsame Schule der Zehn- bis 14-Jährigen inzwischen tot?
Man müsste sie reanimieren, denn die Idee ist nach wie vor sinnvoll. Wir NEOS finden die frühe Trennung der Kinder nicht gut. Ein Ziel muss auf jeden Fall am Ende sein, dass alle Kinder, die die Schule verlassen, Grundkompetenzen im Lesen, Schreiben und Rechnen haben.
Ist das Gymnasium dann eine überholte Schulform?
Das Gymnasium erfüllt den wichtigen Zweck, die Jugendlichen auf die Matura vorzubereiten. Würde das ganze Schulsystem erneuert, müsste aber auch am Gymnasium der Fächerkanon hinterfragt werden. Der Fokus sollte auf besserer Wirtschaftsbildung liegen. Wünschenswert wäre Demokratiekunde als eigenes Fach.
Sie würden Latein und Altgriechisch streichen?
Man muss den Lehrplan insgesamt entrümpeln. Ich bin überzeugt, dass man ein Drittel streichen kann, um Platz für Moderneres zu schaffen. Als Politiker möchte ich jetzt aber nicht sagen, dass dieses oder jenes Fach gekürzt werden kann. Die Politik hat die Verantwortung, den Rahmen vorzugeben. Für die Schülerinnen und Schüler sollte es am Ende des Tages nicht darum gehen, viel Wissen aufzunehmen, sondern soziale Kompetenzen und Kooperationsfähigkeit zu erlernen.
Werden die Menschen dann nicht immer dümmer?
Wenn man lernt, wie man sich Wissen aneignet und kontextualisiert, wird man gescheiter. Mir ist ein Kind lieber, das neugierig ist und die Welt kritisch hinterfragt als eines, das mathematische Formen auswendig gelernt hat.
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