Im September 1938 opferten die Westmächte mit dem „Münchner Abkommen“ die letzte bürgerliche Demokratie in Mitteleuropa für einen Frieden mit Hitler: Die Tschechoslowakei musste das Sudetenland an das Deutsche Reich abtreten.
Wie hoch darf der Preis für die Vermeidung eines gewaltsamen Konflikts sein? Darf man im Namen des Friedens eine Demokratie, ein ganzes Land opfern? Und kann man mit einer Politik des Entgegenkommens einen Aggressor besänftigen? Es sind Fragen wie diese, über die Historiker und Historikerinnen stets diskutieren, wenn es um das berühmte „Münchner Abkommen“ geht, das 1938 zwischen dem deutschen Reichskanzler Adolf Hitler und den Regierungschefs Großbritanniens, Frankreichs und Italiens abgeschlossen wurde.
Hitler provozierte mit der „Sudetenkrise“
Mit der Unterzeichnung dieses Abkommens haben Europas demokratisch regierte Westmächte das Ende der staatlichen Souveränität der Tschechoslowakei in Kauf genommen – zu diesem Zeitpunkt die letzte funktionierende Demokratie in Mitteleuropa. Vorausgegangen war der Unterzeichnung die „Sudetenkrise“, ein von Adolf Hitler provozierter internationaler Konflikt, in dem es vordergründig ausschließlich um die rund 3,5 Millionen starke deutsche Bevölkerung des Sudetenlandes ging, die endlich „heim ins Reich“ geholt werden sollte. Worum es Hitler aber auch ging, war ebenfalls kein Geheimnis. Bereits am 28. Mai 1938 hatte er vor den Spitzen der Wehrmacht und des Auswärtigen Amtes erklärt: „Es ist mein unerschütterlicher Wille, dass die Tschechoslowakei von der Landkarte verschwinden muss.“
Die Nazis wollten die großen Industriebetriebe
Warum das Land unbedingt von der Landkarte verschwinden musste, erschließt sich schnell durch einen Blick auf die starke Industrie und Hitlers Kriegspläne. Denn mit dem Sudetenland fielen 80 Prozent der Metallproduktion, 66 Prozent des Kohleabbaus, 86 Prozent der Chemiewerke und je 80 Prozent der Zement- und Textilproduktion des kleinen Landes in die Hände der NS-Machthaber. Durch Arisierung sollte Hitler dann auch noch die kriegswichtigen Witkowitzer Eisenwerke und den Mammutkonzern Škoda in die Hand der NS-Machthaber bringen.
In der Nacht vom 29. auf den 30. September 1938 unterzeichneten die vier Regierungschefs nach langen Verhandlungen das Münchner Abkommen. Die Tschechoslowakei hatte das Sudetenland binnen zehn Tagen zu räumen, das nach Ablauf dieser Frist an das Deutsche Reich fallen sollte. Prag wurde nahe gelegt, sicherzustellen, dass keinerlei Widerstand gegen den Einmarsch der deutschen Wehrmacht erfolge. Warum die Westmächte ihren Bündnispartner opferten, dafür gab es mehrere Gründe: Einerseits hoffte man, durch dieses Zugeständnis an Hitler einen neuen Krieg mit Deutschland vermeiden zu können. Vor allem Großbritannien war 20 Jahren nach dem Ende des Ersten Weltkriegs nicht bereit, seinen Bürgern noch einmal einen „Weltenbrand“ zuzumuten.
Beschwichtigung gescheitert, Hitler marschierte in Polen ein
Zusätzlich hoffte man, dass durch die nachträgliche Erfüllung des Selbstbestimmungsrechts der Völker – das 1918/19 den Sudetendeutschen ja verwehrt worden war, sie mussten bei Böhmen und Mähren bleiben – der Revanchepolitik Hitlers der Wind aus den Segeln genommen und dessen Annexionsgelüste gestoppt würden.
Die Zugeständnisse an den Aggressor nutzten jedoch nichts. Nach dem Sudetenland verleibte sich Hitler auch die „Rest-Tschechei“ ein, den tschechisch besiedelten Rest der einstigen Tschechoslowakei. Die Entscheidung über Krieg und Frieden nahm Hitler den Westmächten ebenfalls ab. Mit dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Polen am 1. September 1939 begann der Zweite Weltkrieg. Das „Appeasement“, die später viel gescholtene „Beschwichtigungspolitik“, war gescheitert.
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