Zuerst forderten die Demonstranten Brot, dann das Ende des Zarenregimes. Auf die „Februarrevolution“ folgte die „Oktoberrevolution“ und schließlich ein jahrelanger Bürgerkrieg. Weil er versprach, Russland aus dem Ersten Weltkrieg herauszuführen, konnte Lenin 1917 die Macht an sich reißen.
Am Beginn der Russischen Revolution stand die Forderung nach Brot. Die Menschen erlebten im Februar 1917 bereits ihren dritten Kriegswinter, und die Nahrungsmittelversorgung wurde immer katastrophaler. Am 23. Februar – nach dem julianischen Kalender – vormittags begann sich in St. Petersburg ein bürgerlicher Frauenmarsch Richtung Innenstadt zu bewegen. Gleichzeitig hatten sich auch die Arbeiterinnen der Textilindustrie erhoben, um gegen die neuerlichen Brotkürzungen zu demonstrieren. Ebenfalls Richtung Innenstadt zogen rund 100.000 Metallarbeiter. „Brot“ und „Wir verhungern!“, riefen die Menschen. Auf dem Weg in das historische Zentrum St. Petersburgs wurden Scheiben eingeschlagen und Geschäfte geplündert.
Die Demonstranten zogen die Soldaten auf ihre Seite
Am 24. Februar waren es bereits 150.000 Arbeiter, die auf die Straße gingen, am 25. Februar demonstrierten schon 200.000. Vor allem aber wurden die Demonstrationen zunehmend politischer. Rufe nach Brot waren nur mehr vereinzelt zu hören, stattdessen immer öfter: „Nieder mit dem Zaren!“ Bei den Angriffen der Demonstranten kristallisierte sich zunehmend ein Muster heraus: Während Polizisten – welche die Arbeiter als reine „Agenten des Zaren“ betrachteten – heftig attackiert wurden, versuchten die Demonstranten, die Soldaten auf ihre Seiten zu ziehen. Sie bezeichneten die Soldaten als „unsere Leute“ und als „Bauern- und Arbeitersöhne in Uniform“.
Einer der entscheidenden psychologischen Wendepunkte der Aufstände war die Erkenntnis der Demonstranten, dass die Kosaken, die berittenen Elitetruppen der russischen Armee, auf ihrer Seite standen. Die Mehrzahl der Kosaken war den Befehlen ihrer Vorgesetzten nur widerwillig nachgekommen. So hatten sie sich etwa geweigert, bei der Auflösung der Menge ihre berüchtigten Peitschen einzusetzen, und immer öfter war zu hören: „Wir werden nicht auf das Volk losgehen!“, oder: „Wir schießen nicht auf unsere Mütter und Schwestern“.
Nervöse Stille auf beiden Seiten
Am Nachmittag des 25. Februar standen Kosaken und Arbeiter einander gegenüber. Weder ritten die Kosaken auf die Menge zu, noch warfen die Demonstranten Steine, stattdessen herrschte nervöse Stille, jede Seite wartete ab. Plötzlich ging ein Arbeitermädchen auf die Kosaken zu und hielt einem Offizier einen Blumenstrauß entgegen. Als sich dieser herunterbeugte, um den Strauß lächelnd entgegenzunehmen, brachen die Demonstranten in Jubel aus – von nun an wurden die Reiter als „Genossen Kosaken“ bezeichnet.
Doch trotz all dieser Vorfälle konnte das Zarenregime immer noch hoffen, dass sich diese Aufstände – so wie die vielen Brotaufstände zuvor – wieder auflösen würden, solange der offene Konflikt vermieden und kein Öl ins Feuer gegossen würde. Selbst die Sozialistenführer gingen nicht davon aus, dass sich die Revolte wirklich zur gewünschten Revolution entwickeln würde. So fragte etwa Alexander Schljapnikow, Lenins Verbindungsmann, an diesem 25. Februar bei einem Treffen der Parteiführer: „Welche Revolution? Gebt den Arbeitern ein halbes Kilo Brot und die Aufstände werden versiegen!“
Eine Entscheidung des Zaren wirkte als Brandbeschleuniger
Es war schließlich Zar Nikolaus selbst, der den Funken zur Revolution zündete. Nachdem ihm in das Hauptquartier in Mogilev von den Vorgängen in der Hauptstadt telegrafiert wurde, kabelte der Zar, dass „die Aufstände bis morgen militärisch niederzuschlagen“ seien. Dem Präsidenten der Duma befahl er, das Parlament aufzulösen – diesem Befehl kamen jedoch Abgeordnete und Ältestenrat nicht nach. Über St. Petersburg wurde auf Befehl des Zaren der Belagerungszustand verhängt, eine Entscheidung, die als Brandbeschleuniger für Revolution gilt, wussten doch die Demonstranten nun, dass es sie keinerlei Wahl mehr hatten, als bis zum bitteren Ende gegen das Regime zu kämpfen.
Nun ging es Schlag auf Schlag: Ganze Regimenter wechselten zu den Aufständischen über, Waffenarsenale wurden geplündert und Arbeiter bewaffnet. Polizeikasernen und Gefängnisse wurden gestürmt, Bahnhöfe und das Telefonamt besetzt. Am 27. Februar versammelte sich in der Duma der erste Arbeiter- und Soldatenrat, am 28. Februar brach auch in Moskau der Aufstand aus. Am 2. März vereinbarten Duma und Arbeiter- und Soldatenrat, dass der Zar abzusetzen und eine provisorische Regierung zu bilden sei. Kurz darauf unterzeichnete der Zar seine Abdankungsurkunde und rief seine ehemaligen Untertanen dazu auf, sich der neuen „Russischen Provisorischen Regierung“ unterzuordnen.
Welche neue Staatsform würde Russland erhalten?
Die 300-jährige Herrschaft der Romanow-Dynastie war somit zu Ende. Die politische Macht teilten sich nun der „Petrograder Sowjet“, der zentrale Arbeiter- und Soldatenrat, der sich aus den Vertretern der sozialistischen Parteien zusammensetzte und immer mehr Exekutivmacht übernahm, und die „Russische Provisorische Regierung“ – liberale Abgeordnete unter Vorsitz des Dumapräsidenten. In der Praxis bedeutete das: Der Petrograder Sowjet stützte diese sogenannte provisorische Regierung. „Provisorisch“ bedeutete, dass erst nach einer landesweiten Wahl zu einer verfassunggebenden Versammlung Russlands neue Staatsform festgelegt werden sollte.
Schwieriger konnte der Neustart eines Landes nicht sein, eine Krise jagte die nächste. Russland musste sich völlig neu aufstellen, der Reformstau der letzten 200 Jahre sollte aufgearbeitet werden, und das mitten in einem Weltkrieg, der sämtliche Ressourcen verschlang und die Bevölkerung an die Grenzen ihrer Belastbarkeit brachte. Die Menschen wollten nur noch eines: Frieden, genügend Brot und die ersehnte Landreform.
Der Friedensschluss gestaltete sich jedoch schwierig. Denn einfach aus dem Ersten Weltkrieg austreten, ließen England und Frankreich den russischen Bündnispartner nicht. Sie machten klar: Die nötige offizielle Anerkennung der provisorischen Regierung gibt es nur, wenn Russland das Bündnis nicht verlässt. Für einen Diktatfrieden mit den Gegnern Deutschland und Österreich-Ungarn, der Russland um riesige Gebiete gebracht hätte, wollte sich die provisorische Regierung jedoch – noch – nicht hergeben. Die Stimmung unter den russischen Soldaten wurde immer schlechter, es kam immer öfter zu Meutereien und Desertion. Zusätzlich war die Versorgungslage desaströs, in der Bauernschaft war bereits der Ruf nach dem abgedankten Zaren zu hören, zumindest habe es unter ihm Brot gegeben.
Die Deutschen brachten Lenin im plombierten Wagon nach Russland
Der größte Sargnagel für die provisorische Regierung war jedoch die Rückkehr der bolschewistischen Parteiführer im Frühjahr 1917, die noch unter dem Zaren ausgewiesen worden waren. Ihnen war die Februarrevolution, die eine Republik zum Ziel hatte, nicht weit genug gegangen. Sie träumten von der kommunistischen Revolution, von der Diktatur des Proletariats. Wladimir Iljitsch Lenins Rückkehr aus seinem Schweizer Exil hatte niemand anders organisiert als die deutsche Regierung, die sich dadurch eine Schwächung des Kriegsgegners erhoffte. Im plombierten Wagon beförderten sie Lenin und seine Getreuen quer durch Deutschland bis nach Finnland, von dort setzte er nach St. Petersburg über. In seinen berühmten „Aprilthesen“ versprach er die sofortige Beendigung des Krieges, die sofortige Enteignung des Großgrundbesitzes, die sofortige Landaufteilung („Alles Land den Bauern“), den Sturz der provisorischen Regierung und alle Macht den Sowjets.
Lenins Versprechen führten zu einem weiteren Linksruck in den Sowjets. Aber auch die äußerst erfolgreiche Basisarbeit der Bolschewiki innerhalb der Sowjets selbst trugen ihn zur Macht. Denn bereits vor der Machtübernahme Lenins formten die Bolschewiki im ganzen Land die Sowjets zu straff organisierten, bürokratischen Apparaten um, deren wichtigste Exekutivposten immer öfter und systematisch von Bolschewiki eingenommen wurden, selbst, wenn diese in den Generalversammlungen oft in der Minderheit waren. Ursprünglich waren die Sowjets selbstorganisierte demokratische Räte gewesen, in denen es zwar mitunter chaotisch zuging, die aber bedeutende Entscheidungen stets in gewählten Generalversammlungen getroffen hatten. Mithilfe dieser Strukturen, die schnell fest in bolschewistischer Hand waren, sollte Lenin nach dem Oktober 1917 seine Macht im ganzen Land schnell absichern können.
Die Bolschewiki hatten bereits Moskau und St. Petersburg in der Hand
Während die bolschewistische Bewegung immer erfolgreicher wurde, verlor die provisorische Regierung nach ihren gescheiterten militärischen Offensiven gegen die Mittelmächte in immer größeren Teilen der Bevölkerung an Ansehen. Als letzten Ausweg sah der Chef der Regierung die für den 25. November 1917 angesetzte Einberufung der „Konstituierenden Versammlung“. Auf dieser sollte endlich die künftige Staatsform Russlands beschlossen und so den Bolschewiki der Wind aus den Segeln genommen werden. Dem wusste Lenin aber einen Riegel vorzuschieben – seine kommunistische Revolution musste vor dieser „Konstituierenden Versammlung“ stattfinden. Dass eine gewaltsame Machtübernahme vor der Tür stand, ahnte die provisorische Regierung. Sie erließ zwar Haftbefehle gegen die bolschewistischen Führer, ihre Tage waren dennoch gezählt: Denn nicht nur hatten die Bolschewiki sogar bereits die Sowjets von Moskau und St. Petersburg in ihre Hand gebracht, sie verfügten mittlerweile auch über ein „Revolutionäres Militärkomitee“.
„Oktoberrevolution“: Die gewaltsame Machtübernahme der Kommunisten
In der Nacht vom 24. auf den 25. Oktober 1917 – nach gregorianischem Kalender – erfolgte schließlich jene gewaltsame Machtübernahme der Kommunisten, die als „Oktoberrevolution“ in die Geschichte einging. Rotgardisten besetzten die strategisch wichtigsten Punkte St. Petersburgs, am nächsten Tag wurde die Regierung an ihrem Sitz im Winterpalais festgenommen, Ministerpräsident Kerenski konnte fliehen. Der Wechsel war schnell vollzogen, so schnell, dass der Großteil der Bürger erst einen Tag später aus der Zeitung erfuhr, dass anstatt der sozial-liberalen provisorischen Regierung nun die Kämpfer für die „Diktatur des Proletariats“ die neuen Herren im Land waren
Zum ersten Mal in der Geschichte war der Kommunismus die staatliche Herrschaftsform. Doch erst nach einem jahrelangen Bürgerkrieg, der mehr als acht Millionen Menschen das Leben kostete, gingen die Bolschewiki als endgültige Sieger hervor. Am 30. Dezember 1922 wurde schließlich die Sowjetunion gegründet.
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