„Toxische Männlichkeit“ und militärische Aufmärsche: Den Weg zum Demokratieende in Österreich und zu den Februarkämpfen von 1934 ebneten illegale Waffendepots, politisches Lagerdenken und zwei Tabubrüche.
Wer verstehen will, wie es wegen der Räumung eines Waffenlagers im Jahr 1934 zu rund 350 Todesopfern kommen konnte, muss bis zum Ende des Ersten Weltkrieges und darüber hinaus zurückgehen.
Das Habsburgerreich erlebte im Herbst 1918 eine komplette militärische Niederlage. Infolge des staatlichen Zerfallsprozesses löste sich auch die multinationale k. u. k. Armee auf, die ehemaligen k. u. k. Soldaten traten einen ungeordneten Rückzug an und machten sich auf den Weg in die Heimat. Mit sich nahmen sie ihre Waffen. Nicht nur Gewehre und kleinere Kaliber gingen so vom Heeresbestand unkontrolliert in Privatbesitz über, selbst Geschütze der alten Armee wurden gebunkert.
Paramilitärische Verbände bunkerten Waffen
Noch etwas geschah 1918: Im ganzen Land bildeten sich Bürger- und Bauernwehren – Selbstschutzverbände, die sich gegen marodierende ehemalige Soldaten organisierten. Wenige Jahre später hatten auch die politischen Parteien, Sozialdemokratie und Christlichsoziale, solche „Selbstschutzverbände“ um sich geschart. Der „Republikanische Schutzbund“ war der Kampfverband der Sozialdemokraten, die „Heimwehr“, genauer: die Heimwehren, denn es waren verschiedene Verbände, war den Christlichsozialen zuzurechnen. Der Schutzbund bunkerte Waffen im Wiener Arsenal, die steirische Heimwehr besaß sogar Flugzeuge der ehemaligen k. u. k. Armee.
Die junge Republik hatte nicht nur bis an die Zähne bewaffnete politische Parteien, sondern auch parlamentarische Abgeordnete, die mit einer rhetorischen Aggression gegen politische Mitstreiter vorgingen, die jede Zusammenarbeit schwierig machte. Wer einen Blick in die stenografischen Protokolle der damaligen Parlamentssitzungen wirft, wird nie wieder annehmen, dass es in vordigitalen Zeiten gesitteter zuging als heute in den sozialen Medien. Alle politischen Parteien und ihre Abgeordneten hatten gemeinsam, dass sie im Reichsrat des habsburgischen Vielvölkerstaates sozialisiert worden waren – und dort ging es heftig zu. Die altösterreichischen Abgeordneten waren im permanenten dreifachen Kampfmodus gewesen: Sie agitierten bis zum Zerfall der Monarchie gleichzeitig gegen die politischen Gegner, gegen den ungeliebten Vielvölkerstaat und gegen die anderen Nationalitäten der Donaumonarchie.
Eine systematische Entwaffnung scheiterte am politischen Willen
Dafür kam in der Ersten Republik etwas Neues hinzu: Die Parteien wurden engstirniger, als sie es innerhalb des kosmopolitischen altösterreichischen Vielvölkerstaates je gewesen waren. Es bildeten sich jetzt die berühmten politischen „Lager“ heraus, ein Begriff, den der österreichische Historiker Adam Wandruszka geprägt hatte: geschlossene politische und gesellschaftliche Milieus, die ihren Wählern Betreuung von der Wiege bis zur Bahre versprachen.
Dass angesichts der immer größer werdenden Kluft zwischen dem roten und dem schwarzen „Lager“ - die Auseinandersetzungen reichten von ideologischen Grabenkämpfen bis zu tagespolitischen Kinkerlitzchen – die Militarisierung der Parteien das Konfliktpotenzial in der Ersten Republik erhöhte, dämmerte vielen Zeitgenossen. Eine systematische Entwaffnung scheiterte jedoch am Willen der beiden politischen Parteien.
Die Aufmärsche der paramilitärischen Parteiwehrverbände gehörten schnell zum Alltag der Ersten Republik – auch wenn sie mit einer Demokratie auf Dauer nicht vereinbar waren. Die damalige Begeisterung der Mitglieder des roten „Schutzbundes“ und der schwarzen „Heimwehr“ für Aufmärsche war ein Phänomen, das sich mit der Militarisierung der Gesellschaft als ein Erbe des Ersten Weltkriegs ebenso erklären lässt wie mit dem heute so gern verwendeten Begriff der „toxischen Männlichkeit“.
Freizeitbeschäftigung: Man traf die alten Kameraden, der Alkohol floss
Dass „rote“ und „schwarze“ Familienväter an jedem Wochenende nichts Besseres zu tun hatten, als zu Tausenden im Land herumzufahren, um als „Schutzbündler“ und „Hahnenschwänzler“ martialisch aufeinanderzutreffen, stellt eine der Kuriositäten der Ersten Republik dar. Man traf die alten Kameraden, der Alkohol floss, man fühlte sich wichtig. Gefährlich wurde es lange Zeit nicht, wenn diese „Wochenendsoldaten“ aufeinandertrafen, dafür sorgte die wirkliche militärische Macht im Land: Denn dass das 1920 nach dem Friedensvertrag von Saint-Germain eingerichtete Bundesheer den „Spaß“ jederzeit abdrehen würde, sobald etwas aus dem Ruder lief, war den „Roten“ ebenso so klar wie den „Schwarzen“.
Warum Bundesheer und Regierung bei den paramilitärischen Aufmärschen zuschauten? Weil diese auf eine gewisse Art bestehende Konflikte kanalisierten und weil beide annahmen, die Straßen unter Kontrolle zu haben. Dass dem nicht so war, zeigte sich beim Justizpalastbrand von 1927. Wütende Arbeiter hatten aus Protest gegen das „Schattendorfer Urteil“ den Justizpalast in Brand gesteckt. Weil die Demonstranten den Feuerwehren die Zufahrt verwehrten, erhielt die Exekutive den Schießbefehl. 89 Tote waren zu beklagen, Hunderte wurden schwer verletzt.
Die Macht der Straße wird zum politischen Argument
Der Justizpalastbrand war für beide Seiten ein Tabubruch: Die Sozialdemokraten bezichtigten den christlichsozialen Bundeskanzler Ignaz Seipel und Polizeipräsidenten Johannes Schober wegen des als unverhältnismäßig empfundenen Schießeinsatzes, „Arbeitermörder“ zu sein. Ignaz Seipel konterte: „Wenn die Macht der Straße ein Argument ist, dann darf sie nicht das Privileg der Sozialdemokraten sein“, und rüstete gezielt die Heimwehr auf – was wiederum die Sozialdemokraten umso mehr davon überzeugte, dass ein starker Schutzbund unerlässlich sei. Die Fronten verhärteten sich.
Der zweite Tabubruch ereignete sich im März 1933 im Parlament. Engelbert Dollfuß, seit Mai 1932 Bundeskanzler der Christlichsozialen Partei, nutzte eine Geschäftsordnungspanne – im Tumult um einen Misstrauensantrag war zuerst der erste Präsident des Nationalrates, der Sozialdemokrat Karl Renner, zurückgetreten, und nach einer Geschäftsordnungsdebatte auch der zweite und dritte Präsident -, um zu verkünden, dass sich das Parlament „selbst aufgelöst“ hätte. Durch den Einsatz der Polizei hinderte Dollfuß die Abgeordneten am weiteren Betreten des Parlaments. Es war das Ende der parlamentarischen Demokratie in Österreich. Dollfuß errichtete Schritt für Schritt einen autoritären Staat; auch der Republikanische Schutzbund wurde verboten, nicht jedoch die Heimwehren.
Die Polizei war nicht mehr Herr der Lage
Auslöser der Februarkämpfe von 1934 war letztlich die Räumung eines illegalen Waffendepots des Schutzbundes durch die Exekutive in Linz. Lokale Schutzbündler eröffneten das Feuer auf die Polizei. Die sozialdemokratische Parteispitze war weder eingebunden noch wurde sie informiert. Der örtliche Aufstand sprang auf Schutzbund-Fraktionen in anderen Städten über, die Polizei allein wurde der Lage nicht mehr Herr und das Bundesheer wurde eingeschaltet. Es kam zum Einsatz von Artillerie und Maschinengewehren gegen die Schutzbündler. Die Bilanz war rund 350 Tote: grob gerechnet je 100 Tote aufseiten des Schutzbundes, der Exekutive und Unbeteiligter.
Die Februarkämpfe waren der traurige Höhepunkt einer Entwicklung, die unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg eingesetzt hatte. Die junge Republik hatte kommunistischen Putschversuchen, Hyperinflation, Massenarbeitslosigkeit und einer Weltwirtschaftskrise standgehalten. Sie zerbrach jedoch am Unvermögen der beiden politischen Großparteien, den anderen als gleichberechtigten politischen Mitbewerber zu akzeptieren – auch wenn das Ende des parlamentarischen Systems allein Bundeskanzler Engelbert Dollfuß zu verantworten hatte. Größter Gewinner der Situation waren die Nationalsozialisten, die vier Jahre nach den Februarkämpfen die Macht in Österreich übernahmen. Ein Staat, der im Inneren gespalten ist, kann Druck von außen nicht standhalten.
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