„Krone“-Interview

The Hidden Cameras: Vom Ursprung des queeren Pop

Musik
11.10.2024 12:20

Mit der selbsternannten „Gay Folk Church Music“ hat Joel Gibb mit The Hidden Cameras in Toronto vor etwas mehr als 20 Jahren ein im Indie-Pop verwurzeltes Subgenre erfunden, das Queerness und in einer Zeit voll schwacher Toleranz zum Selbstverständnis machte. Heute Abend tritt er solo im Wiener Haus der Musik auf. Die „Krone“ traf ihn vorab zum Talk.

(Bild: kmm)

Was haben Kunstausstellungen, Kirchen, Porno-Theater und Parks gemeinsam? In und bei all diesen Locations hat Joel Gibb bereits seine Kunst präsentiert. Der streng religiös erzogene und schwule Kanadier hat sich früh offen gegen die Dogmen der Kirche gestellt und mit The Hidden Cameras vor mehr als 20 Jahren ein loses Kollektiv gegründet, das all seine musikalischen Vorlieben und emotionalen Tiefen in die Öffentlichkeit tragen konnte. Als „Gay Folk Church Music“ bezeichnete er den Sound einst selbst, über die Jahre mäanderte er freilich weit darüber hinaus in andere Sphären. Indie-Pop, Folk, theatralischer Art-Pop oder auch Elektronik - Grenzen gibt es bei Gibb weder in der musikalischen noch in der optischen Aufmachung.

Herausfordernd und lohnend
Die Hidden Cameras waren oft bis zu 20 Personen, mit Go-Go-Tänzern und ausladenden Showkonzepten, dann aber – so wie aktuell – ist Gibb auch wieder nur ganz allein mit Gitarre und Kick-Drum unterwegs, um die Songs aus mehr als zwei Dekaden Karriere zum Besten zu geben. Nach einem Auftritt in Graz ist der Gibb heute Abend (11. Oktober) im Wiener Haus der Musik zu Gast. Für den Solo-Ausflug hat er teilweise tief in der Vergangenheit gegraben. „In Graz habe ich ein paar alte Songs gespielt, zum ersten Mal seit 15 Jahren“, erzählt er der „Krone“ vor dem Wien-Gig im Interview, „mein Ein-Mann-Bandkonzept läuft schon recht gut.“ Gleichzeitig zwei Instrumente zu bedienen und zu singen sei zwar herausfordernd, andererseits ist Gibb in dieser Form auch sein eigener Chef. „Ich spare mir das Proben und die Diskussionen, wie wir eine Setlist anlegen.“

Inhaltlich gab es in Gibbs Songs keine Tabus. Die queeren Kammerpop-Hymnen mäandern thematisch zwischen Genitalien, Ejakulationen und dem süßen Geruch des Schweißes. Wie kein zweiter schaffte es Gibb in den 2000er-Jahren einer queeren Gemeinschaft das Gefühl von Zugehörigkeit und ungezwungenen Spaß zu vermitteln. Besonders erfolgreich waren dabei die ersten paar Alben, vor allem das Zweitwerk „Mississauga Goddamn“, das heuer sein Jubiläum feiert und exakt heute von Rough Trade als „20th Anniversary Edition“ veröffentlicht wird. Aufgefettet ist die Neuauflage mit B-Sides, Demos und bislang unbekannten Live-Versionen. Unter anderem von „High Upon The Church Grounds“, einem Song, den er auf seiner ersten Backpacker-Reise in Wien geschrieben hat.

Europäische Musikentfaltung
„Damals habe ich noch gar nicht live gespielt, hatte aber bereits eine Band im Kopf. Alles sollte möglichst groß und bombastisch klingen. In Wien hatte ich eine gute Zeit, während sie in Berlin nicht so gut war“, schmunzelt er, „lustig, dass ich ausgerechnet in Berlin gelandet bin.“ Nachdem er jahrelang immer wieder zwischen Kanada und Europa gependelt war, ist Gibb mittlerweile seit geraumer Zeit in Berlin wohnhaft. Für Studioaufnahmen reist er immer wieder gerne nach München, wo auch das nächste Album im Entstehen ist. Es soll elektronisch klingen und 2025 veröffentlicht werden. Den einen oder anderen Song daraus hat er eventuell schon heute Abend im Gepäck. Die Nostalgie erwacht automatisch dadurch, dass seine kultigsten Alben nacheinander Jubiläen feiern. „Es ist nicht so, dass ich die Musik von damals groß analysiere“, sagt er, „ich fühle noch immer denselben Vibe wie damals und muss nicht immer mit Go-Go-Tänzern auf die Bühne, um ihn zu reproduzieren.“

Dass Gibb nun zum Alleinunterhalter mutierte und die Aufmerksamkeit völlig auf ihn gelenkt ist, stört ihn nicht besonders. „Früher war es schon gut, dass ich mich hinter vielen anderen Leuten und der Show verstecken konnte, aber ich bin in die Rolle des Performers reingewachsen. Als ich die Band ins Leben rief, kam auch diese Komponente dazu – heute fühle ich mich dabei aber ganz wohl.“ Mehr Probleme als das Element des Unterhaltens bereiten ihm manche seiner Songs in der Live-Umsetzung. „Tracks wie ,Ban Marriage‘ oder „Lollipop“ haben so viel Text, der in kurzer Zeit verarbeitet wird, dass ich den Gesang live kaum umsetzen kann. Es gibt keine Pausen, alles geht unheimlich schnell und direkt von der Strophe in den Refrain über. Das fällt mir besonders jetzt auf, wo ich die Songs auf die Bühne bringen möchte.“

Live im Haus der Musik
Joel Gibb spielt heute Abend solo als The Hidden Cameras im Haus der Musik in Wien. Es gibt noch Karten an der Abendkasse.

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