Mehr als ein Jahr ist seit dem Aufkommen der großen Rammstein-Skandale ins Land gezogen, die Gemüter haben sich auf allen Seiten wieder etwas beruhigt. Mit der Karrierewerkschau „Rammstein – Provokation als Gesamtkunstwerk“ versucht sich Musikwissenschaftler Peter Wicke an den Berlinern. Das Ergebnis ist zwiegespalten.
Wer als an Popmusik Interessierter an 2023 zurückdenkt, dem bleibt vor allem die nicht enden wollende Diskussionsschleife um Rammstein im Allgemeinen und deren Frontmann Till Lindemann im Speziellen erinnerlich. Monatelang grassierte eine Diskussion um angeblichen Missbrauch, das Ausspielen von Machtverhältnissen und Fehlverhalten, während die Band stoisch schwieg, die Anwälte sprechen ließ und eine restlos ausverkaufte Stadionshow nach der anderen quer über den europäischen Kontinent spielte. Strafrechtlich sind die Berliner längst freigespielt, moralisch bleibt das Thema allgegenwärtig, wenn auch mit wesentlich weniger Messer zwischen den Zähnen ausgetragen. Als die millionenschwere Erfolgscombo diesen Sommer weiter unermüdlich tourte, war von großen Gegendemonstrationen nichts mehr zu sehen. Die himmelschreiende Empörung wich einer Mischung aus Resignation und Müdigkeit zur Gegenwehr – wie so oft im Zeitalter des Alarmismus.
Unverkennbare Schlagseite
Nicht zuletzt mit diesem Hintergrund ist das Buch „Rammstein – Provokation als Gesamtkunstwerk“ (Hannibal Verlag) eine Pflichtlektüre für all jene, die sich zumindest irgendeine Meinung über die Band gebildet haben, denn wie auch die Mitglieder im Laufe des Werkes des Öfteren anmerken: Egal sind sie keinem. Verfasst wurde das Buch vom mittlerweile 73-jährigen Musikwissenschaftler und Popmusik-Forscher Peter Wicke, der als Uni-Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin lehrte und sich seit den frühen 1980er-Jahren mit Strömungen, Veränderungen und Entwicklungen von Pop- und Rockmusik auseinandersetzt. „Von Mozart zu Madonna“ quasi, wie eines seiner Bücher aus 1998 heißt. Das bedingt aber auch, dass Wicke in der schwierigen Gegenwartsthematik eine tendenziöse Brille trägt, die er beim Verfassen des Werkes tunlichst zurückstellt, aber gerade bei der aktuellen Thematik nicht völlig aus dem Kontext bringt. Mit Wokeness und politischer Korrektheit hat er keine große Freude. Das muss weder richtig noch falsch sein - es entlarvt nur eine eindeutige Schlagseite, in einem ansonsten sehr informativen und wissenschaftlich aufgebauten Werk.
Wicke bedient sich bei den Zitaten aus einem unendlichen Fundus von Interviews über mehr als 30 Jahren. Selbst konnte/durfte er mit den medial immer seltener agierenden Musikern nicht reden, dafür greift er tief in die Quotenkiste und zitiert dabei korrekt. Wicke teilt das Buch in einzelne Unterkapitel auf, die sich mit interessanten Facetten der Band befassen, die so manche Frage im Kontext des Projekts wahrscheinlich beantworten kann. Etwa warum man ihnen aufgrund ihrer Herkunft und Sozialisierung wohl keine rechtspolitische Gesinnung nachweisen kann, oder dass es, wenn man in der DDR aufwächst und unter dem dortigen Regime lebt, zum guten Ton eines Künstlers gehört, alles, nur nicht gewöhnlich zu sein. Das Stilmittel der Provokation ergibt sich aus dem ganz normalen Alltag. In fein recherchierten Details ergründet Wicke an einzelnen Beispielen, warum Rammstein der Gesellschaft im Prinzip nur den Spiegel vorhalte und mit den Untiefen ihrer eigenen inneren Dämonen und Emotionen konfrontiere.
Bandinterne Erleuchtungen
Neben allerlei Offenkundigem und Bekannten sind es dann doch die weniger beleuchteten Nebenschauplätze, die für Spannung und Lesevergnügen sorgen. So erfährt man detailreich von den ersten Auftritten vor 15 Leuten im Vorprogramm von lokalen Spaßtruppen, warum Till Lindemann mit einer absoluten Anti-Singstimme zu einem der populärsten Metalsänger Europas wurde und wie sich aus einem Interesse für Feuer und dem Zündeln ein pyrotechnisches Monster bildete, das bei Auftritten heute ganze Stadtteile erhellt und mit effektreicher Prägnanz seinesgleichen sucht. Die Akribie, mit der Wicke derartige Artikel nachzeichnet, ist beachtenswert, ermattet dann aber beim Lesen in diversen Unterkapiteln. Auf insgesamt knapp 50 der 240 Seiten bleibt dafür keine einzige Frage bezüglich des Klangs, der Soundzusammenstellung, der Feuersalven und der Bühnenshow übrig. Quasi einmal Konzertmonster zum daheim Nachbauen: Wenn man eben das Budget dazu hat.
Musikalisch legt Wicke sein Hauptaugenmerk auf die Frühzeit Rammsteins. Die Vorgängerbands, den Aufbau und das Debütalbum, das sie über Nacht zu Superstars in Deutschland und bald auch auf der ganzen Welt machen sollte. Den lyrisch teilweise simplen, dann aber auch wieder besonders ausgefeilten Texten gibt Wicke die Möglichkeit zur Entfaltung. Dort, wo Tabubrüche und unkonventionelle Vorgänge besonders austreibend vorkommen, versucht er sich an Analysen und Einordnungen. Der Grundsatz, dass die Kunst immer frei sein sollte, steht dann oft im Gegensatz zur platten Provokation, die manchmal bei den Musikern selbst für Staunen sorgt. So ist das viel kritisierte Video zum Depeche-Mode-Cover „Stripped“ mit seiner Riefenstahl-Ästhetik in eine Richtung gegangen, wo sich die Musiker selbst Sinnfragen aus ihrer Familie gefallen lassen mussten, um künftig geschickter und noch durchdachter ans Werk zu gehen.
Die Band-Aura leuchtet
Da Wicke sich nicht direkt an die Band wandte, gibt es aber auch keine neuen Erkenntnisse, die man sich bei Interesse nicht auch von woanders zusammenkratzen könnte. Wer sich tieferen Zugang in die Seelenwelt oder das Privatleben der Musiker erhofft, wird enttäuscht. Auf der anderen Seite bekommt man im sehr flüssig und verständlich geschriebenen Buch als Einsteiger wie auch Die-Hard-Fan ein gutes Gefühl dafür, mit welcher besonderen Aura sich diese Band einen einzigartigen Status in der globalen Musik- und Entertainmentwelt erspielt hat, wie es heutzutage nur noch äußerst selten gelingt. Rammstein sind bestimmt weder die kreuzbraven Unschuldslämmer auf „der Suche nach der verlorenen Identität“, wie es ein Kapitel bezeichnet, noch sind sie die unkontrollierbaren Teufel, als die sie das Feuilleton seit geraumer Zeit tituliert. Die Wahrheit liegt irgendwo in der Mitte und Wicke hat viel Schlagseite. Wer darüber hinwegsieht, bekommt einen kurzweiligen Rundumgang zu einer der erstaunlichsten Karriereverläufe der modernen Populärmusikhistorie.
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