Zwei Klassiker der Ballettliteratur werden an der Grazer Oper derzeit an einem Abend gezeigt: Der deutsche Choreograf Louis Stiens interpretiert im ersten Teil Debussys „Prélude à l‘après-midi d‘un faune“ neu. Im zweiten Teil findet der Kubaner George Céspedes einen neuen Zugang zu Strawinskys „Le sacre du printemps“. Das Resultat ist in jeder Hinsicht umwerfend.
Das Risiko, das Ballettdirektor Dirk Elwert genommen hat, als er sich dazu entschieden hat, zum Start in seine zweite Saison an der Oper Graz zwei ikonische Klassiker des Genres von zwei unterschiedlichen Choreografen neu interpretieren zu lassen und diese an einem Abend auf die Bühne zu bringen, war groß. Doch es hat sich gelohnt. Und wenn man nach Gründen dafür sucht, warum „Sacre“ – so der Titel des Doppelabends – ein voller Erfolg ist, muss man zuallererst jenen Bestandteil nennen, der die beiden Teile vereint: Vassilis Christopoulos und seine Grazer Philharmoniker liefern nicht weniger als eine Glanzleistung.
Ein Faun zwischen Mensch und Natur
Debussys „ „Prélude à l‘après-midi d‘un faune“ klingt unter Christopulos verspielt und verträumt, durchlässig und gewitzt. Und Ravels „Ma mère l‘oye“, mit dem der erste Teil musikalisch beschlossen wird, schmiegt sich so sanft ins Ohr, dass man beinahe aufs Schauen vergessen könnte.
Dabei bietet die Choreografie von Louis Stiens mehr als genug, dem das Auge gerne folgt: Zärtlich und frech erzählt er in dem mit „Fieber“ überschriebenen Teil vom Verhältnis zwischen Mensch und Natur, das aus dem Gleichgewicht geraten ist. Symbolisch steht dafür der Ausriss einer Kontinentalplatte auf der Bühne, den die Tänzer mit bebender Leidenschaft, aber auch erschütterter Verzweiflung umspielen. Es geht um nicht weniger als einen Überlebenskampf. Doch wer will hier eigentlich wen überleben – der Mensch die Natur, oder umgekehrt? Stiens findet für den zwiespältigen Zustand unserer Existenz eindrucksvolle Bilder, die das Ballettensemble wunderbar mit Leben füllt.
Welche Opfer fordert das Überleben?
Nicht weniger existenziell geht es in der zweiten Hälfte des Abends zu: Der kubanische Choreograf George Céspedes hat dafür Igor Strawinskys „Le sacre du printemps“ aus dem Kontext heidnischer Opferrituale gelöst und sucht darin stattdessen Momente der gegenseitigen Auseinandersetzung des Einzelnen mit der Masse. Kämpferisch gehen die Tänzer aufeinander los, Anklänge an die Straßenkämpfe in „West Side Story“ sind dabei wohl nicht zufällig. Immer wieder findet das großartig agierende Ensemble aber auch zu Gruppenszenen zusammen, in denen sie – zumindest für kurze Momente – zu einem Tanzkörper verschmelzen.
Christopoulos und die Philharmoniker finden dafür ein wunderbares Gleichgewicht aus getriebener Rhythmik und einer erdigen Suche nach Harmonie und liefern damit nicht nur eine großartige Strawinsky-Interpretation, sondern fügen sich auch perfekt in die Bewegungssprache von Céspedes.
Das Resultat ist ein auf allen Ebenen mehr als gelungener Abend, der vom Premierenpublikum zurecht mit frenetischem Jubel und Standing Ovations goutiert wurde.
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