Mehr als fünf Jahre lang mussten Fans der Kultband The Cure auf das lange angekündigte neue Album „Songs Of A Lost World“ warten. Nun bekommen sie ein vertontes Manifest an den Tod, das trotzdem Hoffnung versprüht und die Sehnsucht nach einem imaginären Früher nährt. So schön klingt nur der Herbst.
Albert Einstein behauptete einmal, Zeit sei relativ. Relativ viel Zeit mussten Fans von The Cure aufbringen, um endlich das neue Studioalbum ihrer Helden in der Hand halten zu können. Das ist wortwörtlich gemeint, denn das Zielpublikum von Robert Smith, Simon Gallup und Co. delektiert sich nach wie vor gerne am physischen Produkt und verwendet die Allmacht des Streamings nur in Ausnahmefällen. Angekündigt hat der Brite das neue Werk bereits für 2019. Hier und da gab es Informationshäppchen, aber irgendwann hatte niemand mehr damit gerechnet. Zuerst grätschte die Pandemie rein, dann ließen The Cure schlichtweg Zeit verrinnen und zu guter Letzt präsentierten sie viele der unveröffentlichten Songs immer wieder bei Live-Konzerten in den letzten Jahren.
Übriggebliebener des Gestern
Für Smith mussten die Songs definitiv reifen. Er hat sie einem livehaftigen Test beim Publikum unterzogen und wollte sichergehen, dass alles an der richtigen Stelle sitzt. Hand und Fuß hat. Keine Tür in einen Raum von möglichen Missverständnissen offenbleiben würde. „Songs Of A Lost World“ heißt nun das 14. Studioalbum der Dunkelkunst-Könige. Das erste seit geschlagenen 16 Jahren. Eine Zeitspanne, in der viele der heutigen Superstars noch in den Kinderschuhen steckten oder gar noch in Abrahams Wurstkessel schwammen. Eine Zeit, in der Bands noch nicht aktiv darauf hinweisen mussten, dass Smartphones bei Konzerten stören. Robert Smith ist hingegen ein Meister der Wiederholung. Immergleicher Look, immergleiche Schwärze auf dem Kopf und an der Kleidung. Immergleiche, opulent lange Konzerte, die gerne mal die Drei-Stunden-Marke übertreffen. Er ist ein Übriggebliebener aus einer anderen, entschleunigten Welt. Ein Relikt aus Sehnsuchtszeiten, das sich weigert, mit den Mechanismen der modernen Welt schritthalten zu müssen.
Wie nennt also ein 65-Jähriger sein Album, wenn er noch nicht einmal ein Smartphone besitzt? „Songs Of A Lost World“ – ein programmatischer Titel, der nicht nur perfekt zum 1. November passt, sondern die gesamte Hybris seines Lebensprojektes ideal zusammenfasst. Wenn sich Smith im – überraschend poppigen - „Drone:NoDrone“ über Drohnen und den zunehmenden Drang nach allumfassender Überwachung echauffiert, tut er das mit zarter Engelsstimme und einem mehr tröstlichen als mahnenden Timbre. Es sei manchmal schwierig für ihn, die heutige Realität zu akzeptieren, erzählt er in einem internationalen Interview zum neuen Album. Die moderne Welt ist Smith ein derartiger Graus, dass er sich in seiner Kunst kopfüber in die Melancholie flüchtet. „Songs Of A Lost World“ ist ein acht Kapitel starkes Manifest über Verlust und Trauer, aber auch über Akzeptanz und das Weitermachen.
Den Tod zu fassen kriegen
Es geht um das Unausweichliche, das wir alle so weit wie möglich vor uns herschieben: um den Tod. Das unvermeidliche Ende und die Erkenntnisse daraus. Im als Vorab-Single ausgekoppelten Opener „Alone“ wird man Ohrenzeuge des gefühlten Dahinscheidens. „Es gibt immer wieder einen Moment, wo ich ein überwältigendes Gefühl der Verlorenheit, des Alleinseins und des Endes spüre“, lässt sich Smith zitieren, während er im knapp siebenminütigen Song erst zur Halbzeit mit Gesang einsetzt. Dieses Lied wäre der endgültige Türöffner für das vorliegende Album gewesen. Erst als Smith „Alone“ fertigstellte und in seiner fragilen Zerbrechlichkeit als das erkannte, was es ist, war er bereit, die anderen Song-Kapitel auch abseits der Live-Bühne mit der Öffentlichkeit zu teilen. Der Tod war für die Königin aller New-Wave-Bands schon immer ein Motiv des künstlerischen Lebens, doch erst jetzt ist ihm Smith so nahe, dass er ihn in seiner gesamten Vielseitigkeit zu fassen kriegt.
„You promise you’ll be with me till the end”, singt Smith in „And Nothing Is Forever”. Er habe versprochen, bei jemandem am Todesbett zu sein, bis er stirbt - das Versprechen war nicht einlösbar, die sieben Minuten in Ton gegossener Herzschmerz fungieren als Smiths therapeutische Abhandlung. Bedächtig wogt das Werk in sanften Wellen, bis es zum heroischen Schlussdrittel ansetzt. „I Can Never Say Goodbye“ ist eine Ode an Smiths älteren Bruder Richard, der viel zu früh eines unerwarteten Todes verstarb. Smith erinnert sich an die letzten gemeinsamen Erlebnisse und findet darin einen Ausweg aus der persönlichen Trauer. „All I Ever Am“ ist eine Ode an die Präsenz des Moments. Daran, wie schwer es manchmal zu akzeptieren ist, dass all die Schichten des jüngeren Selbst den Menschen der Gegenwart ergeben. Mit dem „Endsong“ gelingt dem 65-Jährigen der perfekte Karriereabgesang, ohne in auszusprechen. Wie kann man in einer so zerbrochenen Welt, so schöne und seelenvolle Songs schreiben? Die Antwort kennt nur Robert Smith selbst – und kann sie wahrscheinlich nicht verbal benennen.
Würdevoll gealtert
Erstmals seit 1985 hat das Band-Mastermind ein Album komplett im Alleingang geschrieben. Es ist eine Ode an verletzliche Momente. Kein Klavierklang, kein Streichereinsatz, kein näselndes Wort ist hier zu viel. „Songs Of A Lost World“ ist ein entschleunigtes Mahnmal an die Bedächtigkeit. In den acht Liedern trotzt Smith jeglichem Trend und erweist sich als altersreifer und kundiger Romancier des Untergangs. Die poppigen und freudvollen Momente weichen einer inneren Angst, die er wie einen Mantel nach außen stülpt und mit seinen Hörern teilt. Von der musikalischen Umsetzung über die Songreihenfolge bis zum Veröffentlichungszeitpunkt passt hier alles. Würdevoller kann eine gefeierte 80er-Kajal-Band nicht altern. Außen Halloween, innen Allerheiligen – und am Ende sind alle mehr als glücklich.
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