Vielen gilt der Berliner Rio Reiser von Ton Steine Scherben noch heute als bester Texter der modernen deutschen Musikgeschichte. Ein Jahr bevor er 75 geworden wäre, erscheint im Ventil Verlag unter dem Banner „Ich will ich sein“ ein Kompendium seiner Songtexte mit Erinnerungen und Anekdoten von Wegbegleitern und selbst musizierenden Fans.
In der Reihe „Ausgewählte Songtexte“ hat der qualitativ immer zielsichere Ventil Verlag aus Deutschland bereits das Vermächtnis so mancher Legende veredelt. Etwa den Hamburger-Schule-Pionier Bernd Begemann, Carsten Friedrichs, Die Sterne-Kopf Frank Spilker und Christiane Rösinger. Eigentlich unglaublich, dass schon so viele andere Bände ins Land zogen, bis man nun erstmals eine textliche Ansammlung von Rio Reiser kompakt in Händen hält. „Ich will ich sein“ ist die längst fällige und auch notwendige Subsumierung aus einem Vierteljahrhundert Ideenreichtum des vielleicht poetischsten, aber mit Sicherheit menschlichsten und klassenkämpferischsten Texters der deutschen Musikhistorie.
Farbklecks im musikalischen Loch
Ein Jahr vor seinem 75. Geburtstag wird dem bereits 1996 verstorbenen Vollblutkünstler endlich diese Ehre zuteil. Kurzer Exkurs für die Nicht-Fans: Reiser, eigentlich Ralph Christian Möbius, wurde 1950 in Berlin geboren und reüssierte als Sänger, Liedtexter, Schauspieler und Aktivist. 1970 gründete er mit dem unlängst verstorbenen Freund und Kollegen R. P. S. Lanrue die wegweisende Band Ton Steine Scherben, die zum Sprachrohr einer antikapitalistischen Gegenkultur der 70er-Jahre wurde, Deutschland stets kompromisslos, aber romantisch einen Spiegel vorhielt und zu einer der einflussreichsten Bands des Landes wurde. Ton Steine Scherben fielen in ein musikalisches Loch zwischen zwanglosem Partyschlager und dem Aufkommen der Punk- und New-Wave- und – später – Hamburger-Schule-Bewegung.
Nach Auflösung der Band 1985 veröffentlichte Reiser bis zu seinem Tod auch noch sechs Soloalben, mit denen er seinen einzigartigen Status als Lyriker und Musiker zementierte. Die heutige Grünen-Politikerin Claudia Roth war in den 80er-Jahren sogar einmal Managerin von Ton Steine Scherben, Reiser selbst einer von nur ganz wenigen, offen schwul lebenden Künstlern Deutschlands und ein Aushängeschild der politischen Linken, das immer wieder zum Reibebaum für gesellschaftliche Fortschritte und Umtriebe wurde. Ein derartiges Text-Kompendium wie das hier vorliegende war bislang auch noch nie erhältlich, garniert ist es mit Anmerkungen, Kommentaren, Liebesbekundungen, Anekdoten und Erinnerungen von Reisers Wegbegleitern bzw. Fans, die durch ihn selbst den Weg in die Welt der Musik fanden.
Vom Kampf zur Zärtlichkeit
Unterschiedliche Persönlichkeiten verbinden unterschiedliche Erlebnisse mit verschiedenen Songs aus Reisers Oeuvre. Rantanplans Torben Müller-Meisner etwa schwärmt vom eher ruhigen „Land in Sicht“ aus 1975. „Rio Reiser war Anarchist, und in dieser Tradition stehe ich ihm als Songtexter auch heute noch nah. Von der unpeinlichen Liebesballade bis zum staatskraftzersetzenden Protopunksong herrscht Rio der Erste, König von Deutschland.“ Die Wandelbarkeit Reisers als Texter sucht noch heute seinesgleichen. Waren vor allem die frühen Songtexte poetische Manifeste gegen den Kapitalismus und die Doktrin der Wirtschaft, wurde er mit zunehmendem Verlauf seines Lebens zärtlicher, inniger und persönlicher. Die Vermischung aus materiell-kritischen und zutiefst ideellen Texten sind das Resultat eines Wechselspiels eines exzentrischen, aber auch zutiefst sanften Charakters, der sich in der Person Reiser vermischte.
Das Wesen Reisers beschreibt etwa Schorsch Kamerum, alles andere als maulfauler Chef der Goldenen Zitronen, im Buch perfekt. „Der einzig erträgliche Rocksänger deutscher Sprache aber, Rio Reiser, hatte den richtigen Schluck genommen beim Rockbühnenboden-Bespielen. Dieser Schluck heißt Zweifel-Skepsis-mit-Disziplin. Komprimiert erzählt, nennt man das Coolness.“ Reiser gelang es über sein Ableben hinaus, bei Punk- Pop- und Rockbands gleichermaßen zu reüssieren. Wenn sich auch so mancher an der musikalischen Darbietung stößt oder ein bisschen mehr zur Schau gestellte Anarchie vermisst, bei der Ehrerbietung an seinen lyrischen Genius passt kein Blatt Papier zwischen den ihn bejubelnden Charakteren. „Rio Reiser war der Jesus Christus der Studentenbewegung“, erinnert sich Frank Spilker nicht zuletzt an seine persönlichen Erfahrungen zurück.
Der „König von Deutschland“, wie einer von Reisers Songs gewohnt doppelbödig und ironisch hieß, scheint in der Rückschau seiner Hinterbliebenen als schwieriger, aber liebevoller Mensch durch, der sich und seine Umgebung nicht nur mit Texten und Liedgut zu begeistern wusste. Reiser war vor allem Aktivist und in seiner Meinung politisch standfest und integer. „Ich schätze die Direktheit, mit der Rio Reiser Dinge angesprochen hat und den Elan, mit dem die Dinge angegangen wurden“, erzählt Liedermacher Stefan Stoppok, „da ist eine Menge Mut drin, Missstände anzusprechen, zu kritisieren. Ohne dass alles sofort wieder in einem übervorsichtigen Man-kann-es-natürlich-auch-anders-sehen ersoffen wird. Kann man nämlich nicht!“ Ein guter Leitfaden für so manch überempörtes Luftschnappen der gegenwärtigen Meinungskaste …
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