Im Dezember 2023 ist der Musiker und Schriftsteller Raimund „Tschako“ Jäger verstorben. Unlängst wurde im Theater Kosmos in Bregenz seine letzte CD präsentiert. Der Autor Robert Schneider war bei diesem besonderen Anlass dabei.
Alle waren sie gekommen, die ihn irgendwie gemocht, bewundert, oft nicht verstanden, sich an ihm entzündet oder einfach nur den Kopf geschüttelt hatten. Der Zuschauerraum im Kosmos-Theater in Bregenz war bis auf den letzten Platz gefüllt. Maria, seine Schwester, beeilte sich, jedem Gast „Das Kästchen“ zu überreichen. Die Vergabung, um das schöne, alte Wort zu gebrauchen, die letzte CD, die er noch kurz vor seinem Tod fertiggestellt hat. Genau so, wie er es wollte. Auf Punkt und Komma. Ohne Kompromisse. Man spürte, wie sehr der Schmerz über den Verlust des Bruders und langjährigen Bühnenpartners von Maria Besitz ergriff. Flüchtig drückte sie mir das mit weißem Stift handnummerierte, in einem schwarzen Umschlag verborgene Vermächtnis in die Hand. Und verschwand.
Mein erster Gedanke, als ich „Das Kästchen“ betrachtete: Habe ich daheim überhaupt noch einen CD-Spieler? Dabei war es doch gestern, als ich mein ganzes Geld in CDs investierte, Ende der 80er-Jahre. Das Gefühl, wie schnell doch die Jahre vergangen sind, an uns vorbei, uns ratlos zurückgelassen haben, blieb auch den ganzen Abend. Merkwürdige Empfindung, wenn man sich der Frage nach dem, was bleibt, hingibt. Nichts bleibt. Sentiment kam nicht auf.
Der Musiker und Schriftsteller Raimund Tschako Jäger, der am 27. 12. 2023 mit 62 Jahren gestorben ist, hat „gelitten und geliebt“, wie es Charles Bukowski einmal strohtrocken in einem Steckbrief über sich selbst formuliert hat. Raimund, der sich nach außen zeitlebens mit Sarkasmus und Zynismus umgeben hat, war in Wirklichkeit einer der zerbrechlichsten und fragilsten Zeitgenossen, die mir je begegnet sind. Ein Schnelldenker, dem die Langsamkeit ein Gräuel war. Redete man mit ihm, hatte man stets den Eindruck, ihn mit aber auch rein gar nichts überraschen zu können. „Im Ernst jetzt: Darauf willst du keine Antwort wissen.“ Das war sein Standardsatz. Was viele nicht bemerkt haben; wenn er redete, hörte er zu. Im eigenen Reden erfasste er sein Gegenüber. Ein Paradox. Aber er konnte das.
Als es bei der posthumen CD-Präsentation im Saal eindunkelte, betrat sein langjähriger musikalischer Begleiter Markus Linder („Tschako & Der kleine Prinz“) die Bühne. Er führte durch den Abend. Auch ohne Sentiment, aber mit einer wunderbar anrührenden Wärme. Wenn Linder aus dem Nähkästchen plauderte oder zu den jeweiligen Programmpunkten überleitete, fühlte man sich umarmt. An die Wand projiziert sah man Fotos von Raimund, auch eines, das ihn schon vom Tod gezeichnet zeigte. Das fand ich stark. Mir selbst sagte er, als er schon sehr krank war, am Telefon: „Wer im Leben eine Million Zigaretten geraucht und gelebt hat wie ich, muss sich nicht wundern.“
Seine letzte CD offenbart einen Menschen, der im Grunde nie künstlerische Heimat besaß. Wo er angekommen war, verließ er die Sparte auch wieder stehenden Fußes, kehrte nolens volens zu ihr zurück, weil ein Mensch einfach von etwas leben muss. Er machte Volksmusik und Chansons, und auch wieder nicht. Er konnte singen und auch wieder nicht. Er war Lyriker, Schriftsteller, Kolumnist und auch wieder nicht. Am Ende seines Lebens – davon legt „Das Kästchen“ beredtes Zeugnis ab, gerierte Musik jedoch nur noch als Folie, als eine Art Ferngefühl. Der Text wurde zum Maß aller Dinge. Die schnurrige Pointe. Poesie stand ihm nie zu Gebot. Das wusste er. Vielleicht sehnte er sich Poesie herbei, das Numinose, jenes unerwidert Romantische, das jeden Sarkasten ein Leben lang umtreibt. Ein Mal nicht mehr denken müssen! Ein Mal einfach nur sein, ohne Rechtfertigung.
Gar manche Songtexte von damals wirkten an diesem Abend heillos aus der Zeit gefallen. Die Pointen konstruiert, das Thematisieren von Sexualität viril verschnarcht. Und fragwürdig für heutige Ohren. Geht gar nicht mehr. Aber in der Kurzprosa blitzte etwas brillant Kafkaeskes auf. Ein durch und durch wehmütiger Raimund Jäger. Hubert Dragaschnig trug die nachgelassene Erzählung „Das Loch“ mit virtuoser Sparsamkeit vor. Eine zauberhaft traurige Kurzgeschichte mit vielen doppelten Böden, die davon handelt, dass der Bodensee eines Tages spurlos verschwunden ist und der Erzähler nur noch in ein unermesslich tiefes, schwarzes Loch hinabblickt. Der Text endet mit den Worten, dass der Ich-Erzähler in Bregenz nicht mehr bleiben möchte. Weggehen will er. Von Bregenz ist er nie mehr weggegangen. Zu gut wusste er, dass man sich immer mitnimmt, wohin man auch flüchtet.
Es wäre kein Abend nach seinem Geschmack gewesen, wenn nicht doch noch ein wenig Provokation stattgefunden hätte. Am Ende stimmte nämlich „Fräulein Jäger“, dem ihr lenkender Geist viel zu früh abhandengekommen ist, Lale Andersens „Lili Marlen“ an, das klassische deutsche Soldatenlied. Das Durchhaltelied. Da gab es dann schon welche, die die Nase rümpften, im Nachgang protestierten, wenn auch hinter vorgehaltener Hand.
Was bleibt? Für mich das Andenken an einen Menschen, den ich bewundert, aber nie beneidet habe. Und es bleibt ein Bild, das ich sicher nie mehr vergessen werde. Als wir nämlich an dem kalten Wintermorgen, an dem Raimund beerdigt wurde, alle an seinem Grab standen, nahm Maria eine Blockflöte aus ihrer Jackentasche und spielte ihrem so sehr geliebten Bruder ein Wiegenlied. Ein herzzerreißenderes Farewell habe ich noch nie in meinem Leben gehört.
Wo er jetzt ist? In den ewigen Jagdgründen, wie es sich für einen Jäger gehört. Keine Kalendersprüche, bitte. Er würde sagen: „Im Ernst jetzt: Darauf willst du keine Antwort wissen.“
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