(Bild: KMM)

Brisantes Testament

Wie Lenin starb und was ihn bis zuletzt quälte

Am 21. Jänner 1924 erlitt Lenin seinen vierten Schlaganfall, fiel ins Koma und starb um sieben Uhr morgens. Der Mann, der dem 20. Jahrhundert seinen Stempel aufgedrückt hatte, verlor nach qualvollen Monaten seinen letzten Kampf: Stalin als seinen Nachfolger zu verhindern.

Die ersten Anzeichen, dass es um seine Gesundheit nicht gutstand, zeigten sich 1921: Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin, litt an Erschöpfungszuständen, Schlaflosigkeit und schweren Kopfschmerzen. Der Mann, der 1917, ein Dreivierteljahr nach der bürgerlichen Februarrevolution, in der darauffolgenden Oktoberevolution mit den kommunistischen Bolschewiki die Macht in Russland übernommen hatte, war mit 51 Jahren körperlich schwer angeschlagen.

Ins Jahr 1921, in dem Lenins gesundheitlicher Verfall einsetzte – ein Jahr vor der Gründung der Sowjetunion – fiel unter anderem der Kronstädter Matrosenaufstand gegen die Politik des „Roten Terrors“  und gegen den Anspruch der Kommunistischen Partei auf Alleinherrschaft. Diesen wie auch alle weiteren Aufstände ließ Lenin brutal niederschlagen. Zeitgleich begann jene Phase, in der Lenin immer öfter Wortfindungs- und Gedächtnisstörungen hatte.

Lenin durfte nicht freiwillig aus dem Leben scheiden

Am 25. Mai 1922 erlitt Lenin seinen ersten schweren Schlaganfall. Seine rechte Seite war gelähmt, das Sprechen fiel ihm schwer, und er musste von nun an im Rollstuhl sitzen. Laut Lenins Schwester Marija Uljanowa, die ihn bis zu seinem Tod pflegen sollte, realisierte der kommunistische Revolutionär nach diesem Schlaganfall sofort, „dass für ihn nun alles aus war“. Uljanowa bat Josef Stalin, Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistische Partei um Gift, damit ihr Bruder seinem Leben ein Ende setzen könne. Stalin sowie das Politbüro, das höchste politische Führungsgremium der KP, verweigerten Lenin jedoch den Wunsch, freiwillig aus dem Leben zu scheiden.

Für beide war ein lebender Lenin wertvoller als ein toter. Während sich Lenin von seinem Schlaganfall langsam erholte, wurde die Sowjetunion von der Troika Josef Stalin, Lew Kamenew und Grigori Sinowjew regiert. Lenin hingegen hatte gezwungenermaßen zum ersten Mal seit Jahren Zeit, über den Zustand der Partei und des Landes nachzudenken. Zu dieser Zeit begann auch sein Misstrauen gegenüber Stalin, und daher fasste er schließlich den Entschluss, dass Stalin unter keinen Umständen sein Nachfolger werden dürfe.

Stalin ließ den kranken Lenin bespitzeln. (Bild: picturedesk.com/Mary Evans / picturedesk.com)
Stalin ließ den kranken Lenin bespitzeln.

Lenin wurde zum Gefangenen Stalins

Im Dezember 1922 erlitt Lenin seinen zweiten schweren Schlaganfall und wurde nun zum Gefangenen Stalins, dem Lenins Misstrauen nicht entgangen war. Unter dem Vorwand, dass Lenin Ruhe für seine Erholung brauche, isolierte er den Kranken: Freunden und Vertrauten wurde verboten, mit Lenin über Politik zu sprechen. Nur für fünf bis zehn Minuten täglich wurde Lenin erlaubt, einer seiner beiden Sekretärinnen Anweisungen zu diktieren. Dass beide Spitzel Stalins waren, wusste Lenin zu diesem Zeitpunkt noch nicht. „Lenin kaputt“ spottete Stalin im Politbüro über den Kranken, dessen Nimbus er jedoch für seine eigene Legitimation brauchte. Erneut ließ Lenin um Gift bitten, wieder wurde es ihm verwehrt.

Lenin raffte sich zu einem letzten Kraftakt auf. In den wenigen Minuten, die es ihm täglich erlaubt war, diktierte er zwischen Ende Dezember 1922 und Jänner 1923 Anweisungen und Gedanken, die als „Lenins Testament“ berühmt wurden. Diese Diktate wurden versiegelt und durften nur von Lenin selbst oder seiner Frau geöffnet werden; sie sollten vor dem nächsten Parteikongress verlesen werden.

Für Stalin war Lenins Testament ein Vertrauensbruch

In diesem Testament forderte Lenin eine Demokratisierung des Zentralkomitees, um die KP offener und transparenter zu gestalten, und um die immer größer werdende Kluft zwischen Parteifunktionären und Arbeitern zu verringern. Die explosivste Forderung war aber jene seiner Nachfolge. Lenin machte unmissverständlich klar, dass Stalin nicht sein Nachfolger werden durfte: „Genosse Stalin hat, nachdem er Generalsekretär geworden ist, eine unermessliche Macht in seinen Händen konzentriert, und ich bin nicht überzeugt, dass er es immer verstehen wird, von dieser Macht vorsichtig genug Gebrauch zu machen … darum schlage ich den Genossen vor, einen Weg zu finden, Stalin von dieser Stellung zu entfernen und sie einem andern Manne zu geben …“.

Der schwer kranke Lenin wurde von seinen engsten Vertrauten gepflegt.  (Bild: picturedesk.com/akg-images / picturedesk.com)
Der schwer kranke Lenin wurde von seinen engsten Vertrauten gepflegt. 

Stalin erfuhr durch die Spitzel-Sekretärinnen von diesem „Testament“. Als Folge dieses Vertrauensbruchs durch Lenin, dem aus Stalins Sicht noch ein weiterer, nämlich ein Schreiben Lenins an Stalins Intimfeind Leo Trotzki folgte, bedrohte Stalin Lenins Ehefrau und entzog Lenin die letzten wenigen Freiheiten, die der Gehandikapte zu diesem Zeitpunkt noch gehabt hatte.

Im März 1923 erlitt Lenin einen dritten Schlaganfall und konnte ab nun für den Rest seines Lebens nur mehr wenige unverständliche Silben von sich geben. Der Politiker Lenin war tot, der Mensch Lenin lebte aber noch bis zum 21. Jänner 1924. An diesem Tag erlitt Lenin um vier Uhr früh seinen vierten schweren Schlaganfall, fiel kurz darauf ins Koma und starb um sieben Uhr morgens. Seinen letzten Kampf hatte Lenin verloren: Stalin als seinen Nachfolger zu verhindern. Stalin blieb bis 1953 an der Macht.

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