Die Kleinsten als großes Thema beim Kongress der europäischen pädiatrischen Fachgesellschaften: Experten diskutierten, wie man die Überlebenschancen von Frühgeborenen erhöhen und Komplikationen vermeiden kann. Auch Eltern sollen in der intensivmedizinischen Pflege besser eingebunden werden.
Jedes zehnte Kind weltweit erblickt als Frühgeburt die Welt. Hinzu kommt, dass die ersten Tage die gefährlichsten seines Lebens sind. Die Neonatologie nimmt daher eine zentrale Rolle in der Kinderheilkunde ein.
Beim 10. Kongress der europäischen pädiatrischen Fachgesellschaften in Wien diskutierten Experten unlängst darüber, welche Maßnahmen nötig sind, um die Überlebenschancen von Frühgeborenen zu erhöhen, wie Komplikationen vermieden und Eltern in der intensivmedizinischen Pflege eingebunden werden können. Wir berichten:
Wann gilt ein Baby als Frühchen?
„Die Grenze der Lebensfähigkeit ist der Zeitpunkt, an der ein Neugeborenes eine reale Möglichkeit auf ein Überleben außerhalb des mütterlichen Körpers hat. In hoch entwickelten Ländern liegen die Überlebenschancen ab 22 Schwangerschaftswochen bei 50%, ab 23 Wochen bei 70-80% und ab 28 sogar bei über 90%“, klärt Prof. Dr. Sven Matthias Wellmann, Neonatologe aus Regensburg, D, und Council-Mitglied der European Society for Paediatric Research, auf (Anm.: Die normale Schwangerschaftsdauer beträgt 40 Wochen).
Erfolgt die Geburt in weniger als 28 Schwangerschaftswochen, spricht man von „extremer Frühgeburt“. Zu den häufigsten Komplikationen zählen Hirn- und Lungenblutungen, Darmprobleme und schwere Infektionen.
Zentralisierung von Leistungen in wenige Kliniken
„Gerade in einer Grenzzonenmedizin wie der neonatologischen Intensivmedizin ist eine Zentralisierung von Leistungen in wenige Kliniken mit entsprechender Expertise, Erfahrung und Fallzahlen extrem wichtig, um auch den allerkleinsten Frühchen eine Chance auf ein gesundes Leben zu ermöglichen.
Sprich: Werdende Mütter mit drohender Geburt in einer sehr frühen Schwangerschaftswoche kommen schon vor der Entbindung zu uns an das Perinatalzentrum im AKH, damit wir eine bestmögliche Vorbereitung auf die Geburt und Versorgung des Neugeborenen danach gewährleisten können“, erklärt Univ. Prof. Dr. Angelika Berger, MBA, Leiterin der Klinischen Abteilung für Neonatologie, Pädiatrische Intensivmedizin und Neuropädiatrie, MedUni Wien. Das Perinatalzentrum im AKH Wien gilt als größtes in Österreich und als eines der größten im deutschsprachigen Raum.
Forschung am Wiener AKH
„Wir betreiben sehr viel klinische Forschung, nehmen an internationalen Studien teil und führen auch eigene akademische Studien durch, um laufend neue und noch bessere Behandlungsoptionen zu untersuchen. Derzeit arbeiten wir z. B. an Prognosemarkern für die neurologische Entwicklung von Frühgeborenen, einer Optimierung von Beatmungstechniken und an der Vermeidung von Infektionen auf Frühgeborenenintensivstationen“, gibt die Expertin einen kleinen Einblick in ihre Arbeit.
Der Haut-zu-Haut-Kontakt hat eine neuroprotektive Wirkung. Zudem beruhigen sich Eltern und Neugeborene, und das Stresserlebnis sinkt.
Prof. Dr. Sven Matthias Wellmann, Neonatologe
Lungenreifespritzen: Einsatz schon vor Geburt
In hoch entwickelten Ländern gilt: Droht die „Niederkunft“ vor der 34. Schwangerschaftswoche, werden der Mami in spe – am besten ab zwei Tagen davor – Lungenreifespritzen verabreicht.
„Diese enthalten den Wirkstoff Kortison und geben dem Ungeborenen das Signal, jetzt schon den Stoff Surfactant zu bilden, der die Entfaltung der Lungenbläschen regelt und dafür sorgt, dass das Baby nach der Geburt besser atmen kann. Nach der Entbindung unterstützen wir die Kleinen zudem vorsorglich mit einer Atemmaske“, berichtet Prof. Wellmann.
Damit versucht man ein mögliches Zusammenfallen der Lunge und drohende Komplikationen (z. B. Atemnotsyndrom oder Hirnblutungen) zu verhindern. Außerdem wird nach der Geburt häufig auch künstlich hergestelltes Surfactant injiziert. Für die Versorgung der Kleinsten bedarf es einem multiprofessionalen Team an Ärzten, Pflegepersonal – und Eltern. Wurden Mama und Papa vor rund 20 Jahren in der Intensivstation noch als Besucher ihrer Kinder gesehen, gilt es jetzt, sie als Teil des Frühgeborenen zu begreifen.
„Eltern und Kind gehören psychologisch zusammen. So hat der Haut-zu-Haut-Kontakt eine wesentliche neuroprotektive [Anmerkung: Schutz von Nerven- und Gehirnzellen vor einer Schädigung] Wirkung. Eltern und Neugeborene beruhigen sich und das Stresserlebnis sinkt. Das fördert die Entwicklung des Babys und ist besonders für die Reifung des Gehirns wichtig“, berichtet Prof. Wellmann.
Innovatives Programm an der MedUni Wien
An der Neonatologie der MedUni Wien startete – als erstes Zentrum in Europa – im Juni 2024 das sogenannte SENSE-Programm, das Eltern dazu befähigt, ihrem Frühchen auf einer neonatologischen Intensivstation positive, entwicklungsfördernde Erfahrungen bereitzustellen und so dessen Entwicklung von Tag 1 an optimal zu unterstützen. Dafür bieten sie gezielt bestimmte Reize (etwa taktile und auditive) an.
„In ersten Studien konnte bereits ein positiver Einfluss auf die neurologische Entwicklung gezeigt werden. Auch die Elternkompetenz sowie die Bindung zwischen Eltern und Kind fördert das Programm nachweislich“, freut sich Prof. Berger über erste Erfolge. Außerdem erhalten junge Eltern an allen spezialisierten Zentren psychologische und physiotherapeutische Unterstützung sowie Schulung. Damit werden sie auf die Entlassung aus dem Spital und den Umgang mit möglichen Komplikationen der Frühgeburt vorbereitet.
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