Die Industriestadt Manchester bleibt auch in der Gegenwart Brutstätte für global spannende Gitarrenmusik. Aktuell sind etwa Hot Milk auf dem besten Weg, die Szene mit ihrem Sound zu erobern. Vor ihrem Gig in Wien standen uns Hannah Mee und Jim Shaw im „Krone“-Talk Rede und Antwort.
Einerseits ist Manchester eine regnerische, von hoher Arbeitslosigkeit und wenig Wohlstand geprägte Industriestadt im Herzen Englands. Andererseits ist es das Epizentrum von zwei der populärsten Fußballklubs der Welt und Brutstätte einer ganzen Phalanx an britischen Musiklegenden. Joy Division und deren Nachfolgeband New Order, die Stone Roses, The Smiths, die Hollies, natürlich Oasis und, ja, sogar Take That haben dort ihre Wurzeln. In diese Riege an großen Namen wollen sich in absehbarer Zukunft auch Hot Milk einreihen. Han Mee und Jim Shaw, die beiden Köpfe des Projekts, lernten sich vor vielen Jahren via Tinder kennen und anfangs lieben. Das Bett teilt man mittlerweile nicht mehr miteinander, sehr wohl aber Tisch und Band. Während Mee in Manchester als Veranstalterin für lokale Gigs arbeite, war Shaw als Lichttechniker im Einsatz. Es war quasi vorhergesagt, dass man nach diversen Bands und Projekten einmal ernsthaft zusammenarbeiten würde.
Rasante Fahrt nach oben
Im Jänner 2018 hat sich die Welt für die beiden extrovertierten Spaßvögel radikal verändert. Nach dem unerwarteten Tod eines gemeinsamen Freundes gossen sich die zwei erst einmal kräftig einen hinter die Binde und schrieben neben einer sich stetig leerenden Weinflasche in nur 25 Minuten den Trauerbewältigungssong „Take Your Jacket“ auf der Akustikgitarre. Weitere Songs folgen und man verschickt, ganz nach alter Schule, anonym Demobänder an kundige Szeneexperten. Nachdem das Feedback positiv ausfällt, geht das Duo in die Vollen und rekrutiert ein Management und eine Begleitband, um auch live zu reüssieren. Nach der ersten EP „Are You Feeling Alive?“ im Jahr 2019 geht es recht schnell. Das Sony-Subunternehmen Music For Nations nimmt sie während der Pandemie unter Vertrag, die EPs „I Just Wanna Know What Happens When I’m Dead“ (2021) und „The King And Queen Of Gasoline“ (2022) festigen ihren Stand als zukunftsträchtige Rockband zwischen den Stühlen.
Mittlerweile sind Live-Konzerte wieder Usus und Hot Milk können ihr wahres Gesicht zeigen: Bühnentiere mit einem Hang zur energetischen Exzentrik. So begeisterten sie etwa vor einem knappen halben Jahr auf der Hauptbühne des Nova Rock Festivals. Dort traten sie schon 2022 im kleineren Rahmen, und witterungsbedingt geforderter, auf. „Daran können wir uns noch sehr gut erinnern“, lachen sie im gemeinsamen „Krone“-Interview, „damals musste ein Traktor unseren Van aus dem Schlamm ziehen, damit wir überhaupt Richtung Bühne kamen. Das war schon speziell.“ Neben zwei Jahren mehr Live-Erfahrung hatten Hot Milk heuer auch schon ihr 2023 veröffentlichtes und international gefeiertes Debütalbum „A Call To The Void“ im Gepäck. „Die große Bühne ist uns lieber, schließlich sind wir Narzissten“, lacht Shaw schelmisch. Der Schmäh geht den beiden Energiebündeln nie aus. „Aber im Ernst – wir haben auch viele Selbstzweifel. Als Künstler auf der Bühne musst du sie aber überspielen. Eine gewisse Spannung ist definitiv notwendig.“
Musik für alle Emotionen
Rein musikalisch treffen Hot Milk genau ins Herz der von ihnen anvisierten Generation Z. Musikalisch mäandert man mit einer Mischung aus Emo, Pop, Rock, Alternative, Indie und Elektronik genau im Fahrwasser von Acts wie Paramore, Yungblud oder All Time Low. Alles kann, nichts muss. „Das ist das Resultat der Generation Playlist“, lacht Mee, „die Zeiten, wo jemand nur Slayer und eine Handvoll ähnlich gearteter Bands gehört hat, sind definitiv vorbei. Das siehst du auch an den Festival-Billings. Die Leute wollen unterschiedliche Sounds hören. Sie wollen was für alle Emotionen, die wir auch alle so erleben. Sieh dir nur an, wie viele junge Metalheads auf Post Malone stehen – das hätte es vor 20 Jahren nicht gegeben.“ Textlich beackern die beiden durchaus tiefergehende Bereiche. Es geht um Ängste und Unsicherheiten, um Rückschläge und Sorgen, aber auch um Gesellschaftskritisches. Mee studierte eine Zeit lang Politikwissenschaften und lässt sich in diesem Bereich nichts vormachen.
„Wir können nur aus unserem eigenen Erfahrungsschatz schreiben – alles andere ist gar nicht möglich. Wenn du nicht echt und offen über Liebe schreibst, wie klingt das dann? Das könnte auch die künstliche Intelligenz erledigen, aber das wäre wohl ziemlich seelenlos.“ Hot Milk sind jung genug, um die technischen Erweiterungen nicht per se zu verteufeln. „In der gesamten Musik gibt es nur zwölf Tonarten. Da ist es verständlich, dass die Innovationen nach gut 60 Jahren Pop-Historie irgendwann auserzählt sind. Vielleicht kann die KI für neue Innovationen sorgen, aber sie wird es nicht ohne Bands und Musiker schaffen, die einen seelenvollen Überbau erschaffen.“ Da das Songschreiben so persönlich ist, kann es für die beiden auch belastend sein. „Hattest du schon mal eine Stunde bei einem Therapeuten? Danach bist du völlig am Ende. So geht es uns mit den Songs auch, aber das ist es definitiv wert. Würden wir uns zurückhalten, dann würden wir uns und alle anderen belügen. Da ist keine Option.“
Freiheit zur Veränderung
Wie bei jüngeren Bands aus dem Rock- und Stromgitarrensektor üblich, ist die Bindung zu den Fans eine sehr enge, die auf Augenhöhe funktioniert. Das erlaubt Hot Milk, stilistisch nicht greifbar zu sein. „Es wäre das Schlimmste, würden wir uns wiederholen oder würde uns jemand vorwerfen, wir hätten ein Erfolgsrezept von uns selbst kopiert. Das Leben ist interessant, wenn man sich pusht und herausfordert. Außerdem ist es schön zu sehen, wie man sich entwickelt. Gottseidank haben wir eine Fanbase, die das kennt und schätzt und unsere Veränderungen mitträgt. Wir könnten diese Band nicht führen, wenn wir uns nicht die Freiheit zur Veränderung geben würden.“ Hot Milk sind sich dessen bewusst, dass Bands heute anders entdeckt werden. „Und zwar visuell. Durch TikTok und Co. passiert es oft, dass Kids die Bands im Bus auf lautlos stellen und erst einmal ein Video sehen und dann entscheiden, ob sie auch reinhören wollen. Das ist eine neue Dimension im Musikbusiness, die für jüngere Bands nicht irrelevant ist.“
Mit den zunehmenden Erfolgen der letzten Jahre verspüren die beiden interessanterweise weniger Druck. „Wir fühlen uns sicherer, weil uns die Leute kennen und mögen. Das gibt uns die Freiheit, noch viel ungefilterter die sein zu können, die wir eben sind.“ Apropos Manchester – Hot Milk haben sich, so sagt es die Legende, in derselben Wohnung gegründet, in der Noel Gallagher das Oasis-Meisterwerk „(What’s The Story) Morning Glory?“ geschrieben hat. „Lustig ist ja, dass wir beide in Salford leben. Direkt neben Manchester. Das ist sozusagen die B-Seite der Stadt“, lacht Shaw, „wir lieben natürlich Oasis und all die anderen Bands – außer Morrissey, der geht sich nicht aus. Aber ich trage Liam Gallagher nicht als Bild in meiner Westentasche mit mir herum. Manchester ist aber die beste Stadt der Welt und du kannst den Leuten erzählen, es gibt hier neue Oasis im Viertel. Vielleicht sollte ich Sticker anfertigen, wo ich einen Strich durch Oasis mache, um die neue Generation an Manchester-Musik zu verbildlichen.“
Live in Wien
Am Montag, 18. November, sind Hot Milk als Support für Palaye Royale im Gasometer das erste Mal live in Wien zu Gast. Man darf sich auf eine atemberaubende Show und vielleicht auch den einen oder anderen noch nicht auf Polycarbonat gepressten Song freuen. Unter www.oeticket.com und an der Abendkassa wird es noch Resttickets für die Show geben.
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