Angela Merkel hat Europa geprägt, wie kaum eine Politikerin vor ihr. Anlässlich der Veröffentlichung ihrer Memoiren gab sie dem „Spiegel“ ein großes Interview. Darin bezog die deutsche Altkanzlerin Stellung zu vergangenen Herausforderungen – und künftigen Bedrohungsszenarien.
Merkel hätte sich in Bezug auf Wladimir Putin nie Illusionen gemacht. Diktatorische Züge seien immer da gewesen. „Seine Selbstgerechtigkeit hat mich oft aufgeregt. Aber ich glaube nicht, dass er sich schon bei seinem Amtsantritt im Jahr 2000 vorgenommen hat, eines Tages die Ukraine anzugreifen.“ Warum also Geschäfte mit Russland eingehen und die NATO-Aufnahme der Ukraine blockieren, wenn die Gefahren bekannt waren?
Die Ex-Kanzlerin fühle sich bezüglich ihrer Russland-Politik missverstanden. Nicht sie alleine hätte beim NATO-Gipfel 2008 der Ukraine den Weg in das Verteidigungsbündnis versperrt. Sie hätte sich auf einen Kompromiss eingelassen – mit der prinzipiellen Zusicherung, dass die Ukraine und Georgien eines Tages in die NATO kommen.
Putin hätte diesen Zwischenstatus ohnehin nicht als Abschreckung „tatenlos“ hingenommen. Der Autokrat sei überzeugt, dass der Untergang der Sowjetunion die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts darstelle. Darauf hätte sie schon damals hingewiesen. „Mit meiner Warnung lag ich richtig. Denn noch 2008 marschierte Putin in Georgien ein.“
Ich habe mich damals auf einen Kompromiss eingelassen.
Merkel zum NATO-Gipfel 2008
Bild: AFP
Zweifel werden bleiben, weiß auch Merkel
Die ehemalige Machtpolitikerin sieht jedoch bis heute keinen Widerspruch in dem gescheiterten Versuch, Russland durch wirtschaftliche Teilhabe einzuhegen. „Russland hat den Krieg begonnen, ohne dass jemals Gas durch Nord Stream 2 geflossen ist. Heute füllen andere Länder Putins Kriegskasse. So wäre es auch damals gekommen, wenn wir alle wirtschaftlichen Verbindungen abgebrochen hätten.“
Merkel stehe zu ihren Entscheidungen. „Wie konnte man in der neuen Ordnung nach dem Kalten Krieg mit einem wie Putin, den manche Historiker als Revisionisten bezeichnen, Verbindungen halten? Durch den Versuch, ihn am Wohlstand teilhaben zu lassen.“ Es sei allerdings schon beim Schreiben ihres Buches zu befürchten gewesen, dass die Debatte damit nicht zu Ende ist. Sie hätte all ihre Kraft eingesetzt, um die Situation zu verhindern, zu der es jetzt gekommen ist. Die Zeit nach der Krim-Annexion sei ein „Dilemma“ gewesen.
Merkel sorgt sich um Zukunft
Die deutsche Ex-Kanzlerin gab zu Bedenken, dass die Krisen unserer Zeit immer größer werden würden. Schwarz-Weiß-Denken dominiere. Der Wahlsieg Donald Trump und der Einfluss des Milliardärs Elon Musk auf den künftigen US-Präsidenten besorge sie. „Wenn jemand in der Politik keine Win-win-Situationen zulässt, sondern immer nur Sieger und Verlierer kennt, dann ist das eine sehr schwierige Aufgabe für den Multilateralismus“, sagte Merkel dem „Spiegel“ über den Republikaner Trump.
Mit Blick auf den Milliardär Musk sagte Merkel: „Wenn ein Mensch wie er Eigentümer von 60 Prozent aller Satelliten ist, die im Weltraum kreisen, dann muss uns das zusätzlich zu den politischen Fragen enorm beschäftigen.“ In den vielen Krisen ihrer Kanzlerschaft sei die Politik die letzte Instanz gewesen, um für Ausgleich zwischen Mächtigen und normalen Bürgern zu sorgen. „Wenn diese letzte Instanz zu stark von Unternehmen beeinflusst wird, ob durch Kapitalmacht oder technologische Fähigkeiten, dann ist das eine ungekannte Herausforderung für uns alle.“
Trump sei neugierig und selbstbezogen
Merkel hatte von 2017 bis 2021 zeitgleich mit Trump regiert und war mehrmals mit ihm zusammengetroffen. Trump sei dabei sehr neugierig gewesen und habe Details ganz genau wissen wollen, sagte die frühere Kanzlerin nun. „Aber nur, um sie auf den eigenen Vorteil hin abzutasten, um Argumente zu finden, die ihn stärken und andere schwächen“, ergänzte sie.
„Je mehr Menschen im Raum waren, desto größer war sein Drang, der Sieger zu sein. Man kann mit ihm nicht plaudern, jede Begegnung ist ein Wettkampf: Du oder ich.“ Andere Regierungschefs sollten sich diesem Stil auf keinen Fall anpassen, warnte Merkel: „Sonst kriegt man politisch ja gar nichts mehr hin.“
Wie geht es für Merkel jetzt weiter? „Es gibt viele schöne Dinge: Reisen, Freunde treffen, Lesen, Relaxen. Ich kann mir auch gut vorstellen, das Buch als Ausgangspunkt zu nehmen, mit jungen Leuten über Demokratie zu sprechen, über die Geschichte der Bundesrepublik, über die Bedeutung von Kompromissen.“ Ihre Memoiren mit dem Titel „Freiheit“ erscheinen am Dienstag.
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