Nach vier Alben und einer erfolgreichen Karriere mit den Chvrches konzentrierte sich Frontfrau Lauren Mayberry die letzten zwei Jahre auf ihr Solo-Debüt „Vicious Creature“. Der „Krone“ verriet sie im Interview, warum die Loslösung notwendig war, was ihr in der Hauptband abging und mit welchen Vorurteilen sie jahrelang kämpfen musste.
Den Einfluss der Schotten Chvrches auf die moderne Synthiepop-Welt darf man nicht zu geringschätzen. Das Trio rund um Sängerin Lauren Mayberry eroberte die Charts und Konzerthallen quer über den Globus und hat sich zu Heilsbringern der elektronischen Indie-Szene entwickelt. 2023 feierte das Chvrches-Debütalbum „The Bones Of What You Believe“ sein zehnjähriges Jubiläum. Während der Feierlichkeiten konzentrierte sich die heute 37-Jährige auch vermehrt auf Soloaktivitäten. Ersten Singles folge eine Live-Tour inklusive eines (schlecht besuchten) Auftritts im Wiener Flex. Mayberry konzentrierte sich auf erste eigene Songs und Cover-Versionen – Tracks von Chvrches blieben bewusst tabu. „Ich habe während der Touren im Februar 2022 damit begonnen, erste Solo-Songs zu schreiben“, erzählt die Sängerin im „Krone“-Interview, „ich hatte nie vor, irgendwas außerhalb der Band zu machen, vor allem weil alle immer Panik schieben, wenn die Sängerin einer Band einen Alleingang wagt.“
Zwei wichtige Regeln
Mayberry war wichtig, dass alles in geordneten Bahnen abläuft. Die Touren mit der Band sind abgeschlossen, die Feierlichkeiten erledigt, alle strömen – wie üblich – in verschiedene Richtungen aus. Die Zeit abseits der Band gibt der Schottin die Chance, sich zu überlegen, wie sie alles anlegen will. „Regel Nummer eins war, dass die Solo-Songs auf keinen Fall wie Chvrches klingen dürfen. Nichts ist uninteressanter, als das zu kopieren, was man sowieso schon macht. Regel Nummer zwei war: Ich muss mich mit den Songs wohlfühlen. Egal, wie sie nach außen ankommen mögen – mir muss es gefallen. Ich muss sie genießen können.“ Visuell wagt sich Mayberry in neue Sphären. Angespornt von Vorbildern wie Björk, PJ Harvey oder Kate Bush setzt sie neben dem Sound stark auf das Visuelle und Theatralische. „Bei diesen Künstlerinnen kannst du jedes Album genau zu ihrer jeweiligen Gemütslage zuordnen. Das bedeutet, dass sie immer alles in die Kunst gelegt haben. So will ich es auch machen.“
Für ihr Debütalbum „Vicious Creature“ ließen sich Künstlerin und Plattenfirma sehr viel Zeit. Zwischen den ersten Songs und dem fertigen Album vergingen fast drei Jahre. Singles wie „Shame“ oder „Change Shapes“ wurden schon 2023 weitläufig live vorgestellt und befinden sich jetzt auch auf dem Album, das zwar ganz am Anfang an die etablierte Hauptband erinnert, dann aber musikalische Haken schlägt und in andere Richtungen ausschert. Für Mayberry war auch der Schreibprozess eine Abnabelung. „Seit ich 23 bin, bin ich Mitglied von Chvrches. In einer Band mit älteren Männern. Umgeben von älteren Männern in der Technik, als Produzenten und beim Label. Auch wenn sie alle nett und okay sind, fehlte mir immer die Freiheit, mich und meine Weiblichkeit in einem anderen Umfeld ausdrücken zu können. Dieser Teil von mir konnte sich mehr als 15 Jahre lang keinen Weg bahnen.“ Das ist der Grund, warum Mayberrys Liveband aus weiblichen bzw. nicht-binären Personen besteht. „Dadurch entsteht ein ganz anderer Ausdruck.“
Den eigenen Weg gefunden
Das Bandgefüge ist Mayberry auch in der Solo-Welt wichtig. „Da ich in Bands spiele, seit ich 15 bin, war ich geschockt darüber, wie wenig Selbstvertrauen ich hatte, als ich allein an Songs arbeitete. Ich wurde bei Interviews auch nie über die Chvrches-Texte gefragt worden. So als wäre ich unsichtbar oder nur das nette Püppchen, das die Botschaften von anderen transportiert.“ Dass Mayberry viele ihrer Songs und Songideen für 14 bis 15 Monate geheim für sich behielt, sieht sie im Endeffekt als großes Plus. „So konnte ich meinen Weg finden und geduldig an den Songs und Texten arbeiten. An guten Tagen dachte ich, ich hätte wirklich Talent für das Songwriting. An schlechten wollte ich alles verwerfen, weil ich mich für völlig unfähig hielt. Dass so viele Menschen so viele Jahre lang nicht daran geglaubt haben, dass ich Musik und Texte erschaffen könnte, hat sich tief in mein Unterbewusstsein gefressen.“
Die 37-Jährige sieht sich selbst als Perfektionistin und als jemanden, der die Dinge gerne bis ins letzte Detail zerdenkt. „Ein Soloalbum aus objektiven Gesichtspunkten richtig gut zu gestalten, ist eigentlich schwerer als es in einer richtigen Band zu tun. Ich habe auf diesem Weg aber viel gelernt und für mich mitgenommen. Mit den Chvrches gab es aber nie die große Werbe- oder PR-Präsenz. Wir haben viele Songs geschrieben und sind oft aufgetreten, haben uns aber nicht aktiv ins Rampenlicht gedrückt. Wir sind einfach unseren Nasen gefolgt und dieses Prinzip habe ich hier weitergeführt.“ „Vicious Creature“ geht sehr offen mit Themen wie Geschlechteridentität, Ruhm oder Emanzipation um und wandert textlich als auch musikalisch zwischen blinkender Euphorie, fragiler Zerbrechlichkeit und todtrauriger Resignation. Je nachdem, was Song und Stimmung gerade verlangen.
Jedes Detail ist wichtig
„Ich hasse nichts mehr als verwaschene oder glattgebügelte Texte, die das Sicherheitsbedürfnis vor eine echte Emotion stellen. Ich gebe zu, dass ich mich dahingehend in meinem Leben schon des Öfteren schuldig gemacht habe, aber daraus habe ich gelernt. Ich schreibe Texte in normalen Alltagssituationen, ohne große Hintergedanken. Die Dinge kommen mir und ich versuche sie dann im Studio umzusetzen.“ Auf die Liebe zum Detail setzt Mayberry auch beim Drumherum. „Etwa beim Merchandise. Ich bin selbst Fan und weiß, wie anstrengend es sein kann, wenn man als Fan zu einem Konzert geht und die Shirts übel aussehen. Ich habe mich selbst oft genug geärgert über solche Fehler im System. Das Visuelle, die Aufmachung, das Merch – all das sind Verlängerungen der Musik und der Kunst.“
Ein fünftes Chvrches-Album ist nicht ausgeschlossen, aber noch nicht am Schirm. Mit einem auch im internationalen Vergleich starken Werk wie „Vicious Creature“ muss sich Mayberry freilich auch solo nicht verstecken.
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