Die Leipziger „Montagsdemo“ vom 9. Oktober 1989 läutete den Fall der Berliner Mauer ein. Spitäler waren in Alarmbereitschaft versetzt und Leichenhäuser vorsorglich geräumt worden. Doch die Streitkräfte der DDR weigerten sich, die Demonstranten niederzuknüppeln.
An einem Montag wurden sämtliche Krankenhäuser der ostdeutschen Stadt Leipzig zu Sonderschichten verdonnert. Für diesen 9. Oktober 1989 war für das gesamte medizinische Personal eine Urlaubssperre verhängt worden. Die Kühlräume der Spitäler, aber auch jene der größeren Schlachthäuser, mussten geräumt werden. Außerdem sollten sich die Mitglieder der Nationalen Volksarmee (NVA) bereithalten.
Es war offensichtlich, dass das DDR-Regime mit einem groben Zusammenstoß zwischen NVA und Demonstranten und unzähligen Toten und Schwerverletzten rechnete. Oder, genauer formuliert: Diesmal sollte die Leipziger „Montagsdemo“, die seit Anfang September 1989 regelmäßig montags in Leipzig stattfand und die das DDR-Regime bis aufs Blut reizte, endgültig „aufgelöst“ werden.
Die Massendemonstrationen griffen auf alle Großstädte über
Zwar waren diese friedlichen Demonstrationen auch bisher mit Gewalt aufgelöst worden, doch diesmal wollten die Granden der DDR den Demonstranten einen besonderen Denkzettel verpassen. Man musste stärker durchgreifen, denn die Massendemonstrationen griffen mittlerweile auch auf die Städte Dresden, Magdeburg, Rostock und Schwerin über.
Was die DDR-Bürger bei diesen friedlichen Demonstrationen forderten, klang in den Ohren von Westeuropäern selbstverständlich. Für die SED-Spitze – die marxistisch-leninistische Staatspartei, deren alleiniger Führungsanspruch in der DDR-Verfassung festgeschrieben gewesen war – galt es als Hochverrat: Die Demonstranten forderten politische Mitbestimmung, eine demokratische Neuordnung, das Ende der SED-Herrschaft, Meinungsfreiheit und Reisefreiheit sowie die Abschaffung des berüchtigten Ministeriums für Staatssicherheit („Stasi“) – alles, was im politischen System der DDR absolut nicht vorgesehen war.
Im Nachhinein scheint es wie seltsam anmutende Verblendung, dass die DDR-Machthaber angesichts der Entwicklungen der vorangegangenen Monate immer noch davon ausgingen, dass sie wie bisher stur weitermachen und jegliche Kritik mit Gewalt niederdrücken konnten. Die Massenflucht von DDR-Bürgern Richtung Westen war nicht mehr zu stoppen.
„Der Letzte macht das Licht aus!“ – Massenflucht aus der DDR
Erst 10 Tage zuvor hatte die SED-Spitze nach wochenlangem diplomatischem Tauziehen 17.000 DDR-Bürgern, die bundesdeutsche Botschaften besetzten und jede Rückkehr verweigerten, die Ausreise genehmigen müssen. Weitere Zehntausende planten ihre Flucht. In der DDR kursierte zu dieser Zeit bereits der Witz: „Der Letzte macht das Licht aus!“
Diese tiefe Demütigung und die Schmach, dass selbst am 40. Jahrestag der DDR-Gründung zwei Tage zuvor (7.10.), der mit viel Pomp, zahlreichen ausländischen Staatsgästen, darunter Ehrengast Michael Gorbatschow, zelebriert wurde, die Menschen demonstrierten – sie riefen mitten in den Feierlichkeiten „Gorbi, hilf uns!“, „Wir sind das Volk“ und „Freiheit“ –, sollten nun gerächt werden.
Die Montagsdemo vom 9. Oktober 1989 sollte die Letzte ihrer Art sein, so entschied es Erich Honecker, erster ZK-Sekretär der SED und damit erster Mann im Staat. „Nieder mit der Konterrevolution“, hieß es aus dem ZK-Büro – diesmal sollten die Demonstranten vor der geballten Stärke von Polizei, Armee und Kampfgruppen in die Knie gehen. Wie weit man bereit zu gehen war, war angesichts der Order zu Sonderschichten in den Krankenhäusern und der Räumung aller Leichen- und Kühlhäuser nicht zu verbergen.
Die Menschen riefen „Stasi raus!“, die Soldaten griffen nicht ein
Doch als sich am Abend des 9. Oktober 1989 eine gewaltlose Masse von 70.000 bis 100.000 Bürgern in Bewegung setzte, die „Wir sind das Volk!“ und „Keine Gewalt!“ rief, hielten sich die Streitkräfte zurück. Sie mussten damit rechnen, im Ernstfall auf die eigenen Kinder, Eltern oder Freunde zu schießen. Entgegen der Anordnungen Erich Honeckers wurden die Demonstranten nicht niedergeknüppelt, ungehindert zogen sie bis zur Stasi-Zentrale, wo sie „Stasi raus!“ riefen, ohne, dass Polizei und Soldaten eingriffen.
An diesem Abend des 9. Oktober 1989 um genau 18:35 Uhr siegte das Volk. Denn unter dieser Zeitangabe protokollierte ein Mitarbeiter der Stasi schriftlich: „Vorbereitete Maßnahmen zur Verhinderung/Auflösung kamen entsprechend der Lageentwicklung nicht zur Anwendung.“ Am 18. Oktober wurde Erich Honecker gestürzt. Honeckers Nachfolger Egon Krenz kündigte zwar eine „Wende“ an – und schuf damit ein Schlagwort --, das Vertrauen der Dissidenten in ihn war aber gering. Genau einen Monat nach der Montagsdemo vom 9. Oktober 1989 sollte die Berliner Mauer fallen.
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