Wer sind eigentlich die Rebellengruppen in Syrien, die den langjährigen Machthaber Baschar al-Assad in die Flucht schlugen? Ihr Anführer ist jedenfalls kein Unbekannter – die USA haben auf ihn schon vor Jahren ein Kopfgeld ausgesetzt.
Sie nennen sich Hayat Tahrir al-Sham (HTS), frei übersetzt „Komitee zur Befreiung der Levante“ und sind ein Zusammenschluss mehrerer islamistischer Milizen. Was vielleicht im ersten Moment nach einem unorganisierten Haufen klingt, hat es dennoch geschafft, in kürzester Zeit den syrischen Machthaber Baschar al-Assad und sein Regime zu stürzen. Die EU und andere Staaten haben die HTS-Milizen bereits als Terrororganisation eingestuft – und das wohl nicht zu Unrecht, auch wenn sich die Meldungen über Gewalteskalationen bis jetzt in Grenzen halten.
Der Anführer ist kein Unbekannter
Ihr Anführer, Abu Mohammad al-Jolani, ist jedenfalls kein Unbekannter. Der HTS entsprang aus einem Zweig des Terrornetzwerks Al-Kaida. Jolani hatte jahrelang im Verborgenen agiert.
Heute steht er im Rampenlicht, gibt Erklärungen ab und spricht mit internationalen Medien. Den Turban der Dschihadisten, den er noch zu Beginn des syrischen Krieges im Jahr 2011 trug, legte er nach und nach ab – zugunsten einer Militäruniform.
„Ein pragmatischer Radikaler“
Seit seinem Bruch mit Al-Kaida im Jahr 2016 versucht Jolani, sein Image zu glätten und sich moderater zu zeigen. Der Wissenschaftler Thomas Pierret von Frankreichs nationalem Forschungsinstitut CNRS nennt ihn einen „pragmatischen Radikalen“. 2014 sei Jolani auf dem Höhepunkt seiner Radikalität gewesen, sagt der Experte und verweist darauf, dass er sich damals gegen die Dschihadistenmiliz Islamischer Staat (IS) habe durchsetzen wollen. Seitdem habe er „seine Rhetorik gemildert“.
Der 1982 geborene Jolani oder auch Golani, je nach Schreibweise, wuchs in Mazzeh auf, einem betuchten Stadtteil von Damaskus. Er stammt aus einer wohlhabenden Familie und war ein guter Schüler. Während der aktuellen Offensive fing er an, seinen bürgerlichen Namen zu nutzen: Ahmed al-Sharaa.
Familiäre Wurzeln auf dem Golan
2021 sagte er dem US-Fernsehnetzwerk PBS, dass sein Kampfname Bezug nehme auf die Wurzeln seiner Familie auf den Golanhöhen. Seinen Angaben zufolge war sein Großvater nach der israelischen Besetzung der Gegend im Jahr 1967 zur Flucht gezwungen worden.
Nach einem Bericht der Website Middle East Eye fühlte sich Golani erstmals nach den Anschlägen vom 11. September 2001 zum Gedankengut der Dschihadisten hingezogen. Er habe an „geheimen Predigten und Podiumsdiskussionen in abgehängten Vororten von Damaskus“ teilgenommen.
Vom Irak wieder zurück in die Heimat
Nach der US-geführten Invasion im Irak verließ er Syrien, um im Nachbarland zu kämpfen. Im Irak schloss sich der heutige HTS-Chef Al-Kaida an und wurde anschließend inhaftiert.
Im März 2011, als die Revolte gegen Assads Regierung in Syrien begann, kehrte er in sein Heimatland zurück und gründete die Al-Nusra-Front – den syrischen Ableger von Al-Kaida, aus dem später die HTS hervorging. 2013 weigerte er sich, Abu Bakr al-Baghdadi, dem späteren Emir des IS, die Treue zu schwören. Stattdessen versicherte er dem Emir von Al-Kaida, Ayman al-Zawahiri, seine Loyalität.
Im Mai 2015 gab Golani an, dass er im Gegensatz zum IS nicht die Absicht habe, Anschläge gegen den Westen auszuführen. Auch erklärte er, dass es im Fall einer Niederlage Assads keine Angriffe aus Rache gegen die alawitische Minderheit geben werde, der Assads Familie entstammt.
Abgrenzung zu Al-Kaida
Als Golani die Verbindungen zu Al-Kaida kappt, erklärt er, dies zu tun, um dem Westen keine Gründe zu geben, seine Organisation anzugreifen. Nach Angaben von Pierret hat er seitdem versucht, sich auf den Weg zu einem „aufstrebenden Staatsmann“ zu begeben.
Im Nordwesten Syriens zwang Golani rivalisierenden islamistischen Gruppen im Jänner 2017 einen Zusammenschluss mit der HTS auf und beanspruchte damit die Kontrolle über weite Teile der nordwestsyrischen Provinz Idlib. HTS baute in den von ihr kontrollierten Gegenden eine zivile Regierung auf und richtete eine Art Staat in Idlib ein, während sie zugleich ihre Rivalen zerschlug.
Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen
HTS wurden in dieser Zeit von Bewohnern und Menschenrechtsgruppen brutales Vorgehen gegen Andersdenkende vorgeworfen – die Vereinten Nationen stufen diese als Kriegsverbrechen ein.
Womöglich im Wissen um die Angst und den Hass, den seine Miliz hervorrief, hat Golani sich an die Bewohner von Aleppo gerichtet, um ihnen zu versichern, dass ihnen nichts passieren werde. In Aleppo gibt es eine große christliche Minderheit. Außerdem rief er seine Kämpfer dazu auf, die Sicherheit in den nun eingenommenen Gebieten zu gewährleisten.
Das sei zunächst einmal ein politisch gutes Vorgehen, erklärte Aron Lund von der Denkfabrik Century International. „Je weniger Panik auf lokaler und internationaler Ebene herrscht und je mehr Golani wie ein verantwortungsbewusster Akteur und nicht wie ein toxischer Dschihad-Extremist erscheint, desto einfacher wird seine Aufgabe. Ist er völlig aufrichtig? Sicherlich nicht“, sagte er. „Aber es ist das Klügste, was man im Moment sagen und tun kann.“
„Krone“-Kommentar von Christian Hauenstein: Der neue starke Mann
Jubel ist ausgebrochen in weiten Teilen Syriens. Jubel über den Sturz des Assad-Clans, der über Jahrzehnte so viel Leid über das Land gebracht hatte. Auch vor der Wiener Oper fand eine Freudenkundgebung der syrischen Gemeinde statt. Dabei ist keineswegs sicher, dass in Syrien auf den Assad-Terror nicht schon bald neuer Terror folgen wird.
Denn der neue starke Mann im Land ist Abu Mohammad al-Jolani, ein Terrorist, auf den die USA ein Kopfgeld von zehn Millionen Dollar ausgesetzt haben. Auch die EU hat seine islamistische Miliz Hayat Tahrir al-Sham (HTS) als Terrorgruppe eingestuft.
Al-Jolani ist im Zuge der US-Invasion im Irak radikalisiert worden. Er schloss sich der Terrororganisation Al-Kaida an und saß in der Folge fünf Jahre in Haft. Zurück in Syrien, gründete er die Al-Nusra-Front, als Ableger der Al-Kaida, mit der er sich später ebenso überwarf wie mit dem Islamischen Staat (IS). Die aus der Al-Nusra-Front hervorgegangene HTS will im Unterschied zu Al-Kaida und IS keinen weltweiten Dschihad, sie beschränkt sich auf Syrien, auf die Levante, wie sie selbst sagt.
In den Gefängnissen der HTS in der seit Jahren von ihr beherrschten Provinz Idlib ging es aber nicht viel anders zu als in den Assad-Folterlagern. Und auch wenn al-Jolani den Turban abgelegt, seinen Bart gestutzt und verbal die sprichwörtliche „Kreide gefressen“ hat, sind Zweifel doch mehr als angebracht. In seiner Überzeugung war er stets Steinzeit-Islamist.
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