Nach Sturz von Assad

Können Geflüchtete aus Syrien wieder nach Hause?

Ausland
09.12.2024 16:12

Im Jahr 2015 hat der Bürgerkrieg in Syrien für eine beispiellose Fluchtbewegung nach Europa gesorgt. Mit dem Sturz des Assad-Regimes keimt nun die Hoffnung auf, dass viele wieder in ihre Heimat zurückkehren können. Doch ist das in der aktuellen Situation überhaupt sicher? Syrien-Experte Thomas Schmidinger zeigt sich skeptisch.

Die Lage in Syrien bleibt nach dem Sturz des Regimes von Baschar al-Assad äußerst unübersichtlich, erklärt der Politikwissenschaftler der Universität Wien gegenüber krone.at.

Krieg hat sich zum Teil sogar noch „intensiviert“
„Im Norden ist der Krieg keinesfalls vorbei – er hat sich sogar intensiviert“, so der Nahost-Experte. Der langjährige Konflikt werde schließlich durch unterschiedliche Interessen und Akteure weiter angeheizt. Der HTS-Führer („Hayat Tahrir ash-Sham“) al-Golani etwa, der seine Wurzeln in der Al Kaida hat, sendet zwar Signale für eine inklusive Regierung, doch in Videos aus Damaskus fordern seine Kämpfer bereits den Marsch nach Jerusalem.

Ist politische Stabilität derzeit überhaupt möglich?
Während viele die Machtübernahme islamistischer Gruppierungen wie der HTS skeptisch beobachten, eskalieren die Kämpfe zwischen pro-türkischen Kräften und kurdischen Einheiten. Besonders die Regionen um Manbij und den Norden des Landes stehen im Fokus schwerer Auseinandersetzungen. „Es ist schwer vorstellbar, dass sich in einem dermaßen vielfältigen Land überhaupt eine Gruppe allein durchsetzen kann“, so Schmidinger weiter.

Eine friedliche Zukunft gäbe es nur bei Kompromisslösungen, die wiederum wohl ein föderales System benötigen würden. 

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Ich würde jedem raten, erst einmal abzuwarten, wie sich die Lage in den kommenden Wochen entwickelt.

(Bild: Universität Wien)

Thomas Schmidinger, Nahost-Experte

Kein sicherer Ort: Rückkehr bleibt riskant
Während in den sozialen Medien bereits Videos kursieren, die Geflüchtete bei ihrer Rückkehr nach Syrien zeigen sollen, warnt Schmidinger vor voreiligen Entscheidungen. „Ich war gerade vor drei Wochen in Kobane in den kurdischen Gebieten in Syrien, würde mir das derzeit aber zweimal überlegen“, so der Experte.

Nur in einem positiven Szenario könnten gut ausgebildete Syrer eine wichtige Rolle beim Wiederaufbau übernehmen. „Ich würde jedem raten, erst einmal abzuwarten, wie sich die Lage in den kommenden Wochen entwickelt.“ Es sei „naiv“ davon auszugehen, dass sich Syrien in kurzer Zeit zu einem moderaten und stabilen System entwickelt.

Ein großer Teil der Geflüchteten sitzt schon länger in der Türkei fest. Ein solides politisches System ist aber derzeit in Syrien noch nicht in Sicht. (Bild: APA/AFP/Ozan KOSE)
Ein großer Teil der Geflüchteten sitzt schon länger in der Türkei fest. Ein solides politisches System ist aber derzeit in Syrien noch nicht in Sicht.

Afghanistan als warnendes Beispiel?
Die Entwicklungen in Syrien könnten ein noch düsteres Szenario als in Afghanistan nach der Machtübernahme der Taliban zeigen. Anders als die Taliban, die ein Gewaltmonopol etabliert haben, ist Syrien weiterhin in ethnische und religiöse Lager zersplittert, so der Experte. Ohne eine inklusive Regierung droht das Land im Chaos zu versinken. Besonders bedrohlich: Sollte die kurdische SDF von der Türkei und ihren Verbündeten besiegt werden, könnten tausende IS-Kämpfer aus der Haft entkommen – ein potenzieller Albtraum für die Region.

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Hier sollte man schon gut schauen, wer da kommt und ob nicht Asylversagungsgründe, wie die Beteiligung an Kriegsverbrechen, vorliegen.

(Bild: Universität Wien)

Thomas Schmidinger, Nahost-Experte

Sogar noch größere Flüchtlingswelle könnte kommen
Während Teile der syrischen Diaspora über eine Rückkehr nachdenken, könnte eine Niederlage der Kurden im Norden des Landes aber sogar eine noch größere Fluchtbewegung auslösen. „Wenn die kurdischen Gebiete überrannt werden, droht eine neue, vielleicht noch größere Flüchtlingswelle“, warnt Schmidinger.

Gleichzeitig könnten ehemalige Regimeanhänger versuchen, das Land zu verlassen: „Hier sollte man schon gut schauen, wer da kommt und ob nicht Asylversagungsgründe, wie die Beteiligung an Kriegsverbrechen, vorliegen“, so der Experte weiter.

Experte sieht EU in der Verantwortung
Während die USA und Russland ihre Aufmerksamkeit derzeit wohl auf andere Konflikte richten, destabilisiert die Türkei die Region zunehmend. Was es nun bräuchte, wäre eine aktive Syrien-Politik der EU, mahnt der Experte.

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Die EU muss handeln, wenn sie keine weiteren Flüchtlingswellen will.

(Bild: Universität Wien)

Thomas Schmidinger, Nahost-Experte

Nur so könne man humanitäre Katastrophen und neue Flüchtlingswellen verhindern. „Die EU muss handeln, wenn sie keine weiteren Flüchtlingswellen will.“

Fazit: Ein fragiles Land auf der Kippe
Syrien steht vor einer unsicheren Zukunft. Während der Sturz des Regimes Hoffnung auf einen Neuanfang gibt, bedrohen Machtkämpfe, die Zersplitterung des Landes und islamistische Gruppierungen jede Chance auf Stabilität. Ein moderates Syrien bleibt derzeit eine ferne Vision – und ohne klare internationale Strategien droht ein weiteres Jahrzehnt voller Leid und Unsicherheit.

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