Album „The Night“

Saint Etienne: Weihnachtliches Klangwichteln

Musik
13.12.2024 09:00

Kurz vor dem Weihnachtsfest grätschen die britischen Ambient-Elektroniker Saint Etienne mit einem sphärischen Album der Einkehr in unseren Alltag. Das feingeistige Werk hält dabei genau das, was so viele allzu krachende Werke zu der Jahreszeit vollmundig versprechen: Es bringt inneren Frieden. Hier eine kleine Analyse.

(Bild: kmm)

An der Spitze der Charts duellieren sich einmal mehr Wham! („Last Christmas“) und Mariah Carey („All I Want For Christmas Is You“) um die Vorherrschaft zum perfekten Glühwein-Soundtrack. 30 und 40 Jahre alt werden die beiden ikonischsten und auf jeden Fall am häufigsten gespielten Weihnachtssongs in diesem Jahr. Alle Jahre wieder sorgen die beiden Formatradio-Hadern dafür, dass sich die zuckersüße Karies nicht nur durch die Punschfreuden am nächsten Christkindlmarkt bemerkbar macht. Wer es wagt, im Dezember noch ernsthaft ein neues Studioalbum auf die Menschheit loszulassen, wird mit dem Zeigen des Vogels bedacht. Wie will man sich mit einem hart erarbeiteten Werk denn durchsetzen gegen die Dauerschleife an ausgelutschten Weihnachtssongs, gegen die in ihrer anbiedernden Redundanz der Inhalt des Hollywood-Klassikers „Und täglich grüßt das Murmeltier“ wie ein fortlaufendes Spannungsmoment anmutet?

Beispielhaft für elektronische Sanftmut
Es gibt aber jene Künstler, die sich gegen die ungeschriebenen Gesetze des Musikmarktes und die Dogmen der Branche zur Wehr setzen und einfach machen, weil es ihnen sowieso egal ist, was wohin passt. Ein Paradebeispiel für die gelebte Veröffentlichungsanarchie ist das britische Trio Saint Etienne, seit mittlerweile knapp 35 Jahren beispielhaft für elektronische Sanftmut, das gerne mit Indie-Rock, Pop oder manchmal auch schrägen Alternative-Klängen kokettiert. „The Night“ nennen sie ihr mittlerweile zwölftes Studioalbum, das in 14 Songs alles andere als massentauglich agiert und mit großer Leidenschaft das Unspektakuläre ins Zentrum des Geschehens setzt. Mit stoischer Ruhe baut das Londoner Trio seine wabernden Soundstrukturen zu ganzen Songs zusammen und stückwerkt damit in einer fast schon zeitlosen Kompositionsschleife, die irgendwie nach allem klingt, was der in sich ruhende Klang-Digitalismus zwischen 1993 und 2024 so hergibt.

Wie schon auf dem feingeistigen Vorgänger „I’ve Been Trying To Tell You“ aus dem Jahr 2021 versuchen Saint Etienne möglichst ohne große Effekte zu musizieren und sich von den intrinsisch geborenen Ideen treiben und führen zu lassen. „Wir wollten diese milde, spacey Atmosphäre des letzten Albums weitertragen“, gab die Band in einem Statement zum Album bekannt, „die Stimmung vielleicht sogar noch einmal erheblich runterdrehen.“ Die einzelnen Lieder haben sich dieses Mal aber nicht aus Samples geformt, sondern sind mit dem steten Vorsatz, richtige Songs zu schreiben, entstanden. Wer sich in sphärische Klanglandschaften wie „Through The Glass“, „Nightingale“ oder den nostalgischen „When You Were Young“ fallen lässt, muss dies unbedingt in der winterlichen Gemütlichkeit des eigenen Wohnzimmers tun. Eine von Regentropfen abperlende Fensterscheibe und ein wärmender Kachelofen sind natürlich kein Muss, für das Hörvergnügen aber schwer empfehlenswert.

Experimentelle Vielseitigkeit
Die bewusste Abkehr vom ständigen Stress der modernen Gesellschaft spiegelt sich schon am unwiderstehlichen Cover-Artwork wider. Das Fotomotiv zeigt einen 80er-Jahre-Ur-Computer auf dem verstaubten Arbeitszimmertisch. Ein obsoleter Automat lädt direkt daneben dazu ein, sich die Zeit am 2D-Gerät mit einem Kaffee, Tee oder eine Suppe zu vertreiben. Klassisch analoge Songstrukturen, mit denen Saint Etienne sich in den 90er-Jahren zu einem Liebkind der geschmackvollen Indie-Szene aufschwingen konnten, sind schon vor geraumer Zeit aus dem kreativen Kosmos des Trios verschwunden. Spoken-Word-Passagen, Ambient-Klänge, lose Dialoge, zerhackte Klangderivate und verspielte Zwischenbrüche durchziehen das Werk, das trotz seiner experimentellen Vielseitigkeit niemals den Fokus auf eine nachvollziehbare Songstruktur verliert.

Die durch alle Songs ziehende gemeinschaftliche Wärme ist nicht zuletzt der Rückkehr zum zwischenmenschlichen Songwriting geschuldet. Nach einigen Jahren der physischen Absenz konnten sich Sarah Cracknell, Bob Stanley und Pete Wiggs endlich wieder im Studio begegnen, wo man auf warmen Teppichböden und zwischen mit Eierschalen ausgekleideten, klangdichten Wänden in einer freundschaftlichen Ko-Union am Album werkte. Wie viele Künstler davor imaginierte sich das Gespann als Grobkonzept die luzide Phase zwischen Schlaf und Aufwachen zusammen. Wohin mit all den Gedanken und übriggebliebenen Träumen, wenn man sich gerade nicht in der Realität befindet, aber auch längst schon aus dem Tiefschlaf gerissen wurde? Cracknells weiche, aber nie in allzu seichte Klischeewelten rutschende Stimme, hält die teils inhomogenen Instrumentals wie ein warmes Band zusammen.

Ruhe und Einkehr
„,The Night‘ ist das Album, das ich gerne nachts hören würde, wenn meine Augen geschlossen sind“, subsumiert die Frontfrau das Grundkorsett des eigenwilligen, aber sehr anheimelnden Werkes. „The Night“ erfordert nicht unbedingt die höchste Konzentration, aber eine gewisse Ruhe beim Hören. Wer sich vom ständig leuchtenden Weihnachtskitsch und der picksüßen Standardbeschallung lösen will, fläzt sich in den Ohrensessel und stellt sich den frisch zubereiteten Ingwer-Zitronen-Tee parat, um in die vielseitige Klangwelt Saint Etiennes einzutauchen. Die offen zur Schau gestellte Zeitlosigkeit der Briten ist beeindruckend, man trotzt fast schon frech jeglichen Trends und Mechanismen des modernen Musikbusiness. So sonderbar und zuweilen abnorm „The Night“ zu dieser von Weihnachtsfeiern und Wichtelgeschenken durchzogenen Jahreszeit auch anmuten mag – wer die weihnachtlichen Tage als alt herkömmliches Synonym für Ruhe und Einkehr betrachtet, findet hier den idealen Soundtrack. Nie klang Musik stärker nach klammen Winternebel.

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