Klaus Wolfermann, legendärer Speerwurf-Olympiasieger von München 1972, ist diesen Mittwoch im Alter von 78 Jahren gestorben.
Lieber Klaus, Ruhe in Frieden! Schon als junger Journalist hatte ich seinen historischen Wettkampf im Münchner Olympiastadion verfolgen dürfen. Noch heute habe ich den dramatischen Wettkampf deutlich vor Augen. Und vor allem ein Bild hat sich in meinem Gedächtnis eingebrannt, ein Bild, das auch um die Welt ging …
Klaus Wolfermann und Janis Lusis lagen einander nach dem sensationellen Speerwurf-Duell in den Armen. Hier der Bundesdeutsche, dort der Lette, der für die Sowjetunion startete. „Ich glaube, es war diese innige Umarmung, die den Menschen gezeigt hat, dass wir Sportler uns über alle politischen Systeme hinweg schätzen“, hatte mir Klaus Wolfermann bei unserem letzten Interview, das ich vor drei Jahren mit ihm für die „World Athletics Heritage“ führte, gesagt. Bei dieser Umarmung fiel auch der legendäre, vom Herzen kommende Satz des Deutschen: „Entschuldige, dass ich gewonnen habe!“
Mit zwei Zentimetern Vorsprung – mit 90,48 m zu 90,46 m – hatte Klaus Wolfermann sein Vorbild, den haushohen Favoriten besiegt. „Janis war ein Goldtipp, so sicher wie die Bank von England!“ In allen Nuancen hat Klaus Wolfermann diese Sensation vor Augen. Wie oft er diese Story erzählt hat, wusste er nicht. Gefühlt wohl an die 100.000 Mal.
4,2 Sekunden lang flog sein Speer an jenem Sonntag, dem 3. September 1972, nachmittags im Münchner Olympia-Stadion im fünften Versuch durch die Luft. Klaus Wolfermann hatte sich zuvor gesagt: „Draufhauen, das Ding muss fliegen!“ Er hatte alles riskiert, seinen Anlauf etwas verlängert, die Geschwindigkeit etwas erhöht, der Abwurfwinkel betrug laut Analyse des Österreichers Michael Strudler knapp 40 Grad. Als der Speer noch segelte, wusste Klaus Wolfermann natürlich sofort, dass der Wurf „weit, extrem weit“ war. Er hatte das 800 Gramm schwere Wurfgerät, wie man sagt, „voll getroffen“.
Als sein Speer jenseits der 90-m-Marke landete, verwandelten die 80.000 Zuschauer die Arena in ein Tollhaus. Wolfermann setzte zu Jubelsprüngen an. An der Anzeigentafel leuchteten 90,48 m auf. Das war die Führung! Janis Lusis war bis dahin mit 88,88 m im ersten Versuch und 89,54 m im dritten Versuch stets an der Spitze gelegen. „Aber noch kam der sechste Durchgang! Ich wusste, dass Lusis in Hochform war, hatte er doch vor München mit 93,80 m Weltrekord geworfen, er war ein Muster an Konzentration, ein Mann mit guten Nerven, hatte auch in Mexiko 1968 im letzten Versuch Gold gewonnen. Ich war gespannt, ob er noch einmal kontern konnte!“ Janis Lusis lief an, machte beim letzten Schritt einen kleinen technischen Fehler. Sein Speer landete bei 90,46 m.
Klaus Wolfermann war Olympiasieger! „Mein Ziel war es eigentlich nur, eine Medaille zu gewinnen. Jetzt aber hatte ich plötzlich den starken, den allmächtigen Speerwerfer, mein großes Vorbild besiegt.“
Der goldene Sonntag
Unfassbare Szenen spielten sich dann an jenem Nachmittag im Olympia-Stadion ab. Unvergesslich für alle, die damals live dabei waren. Es war der „goldene Sonntag“ der bundesdeutschen Leichtathletik. Drei Goldene in eineinhalb Stunden. Siege für Hildegard Falck (800 m), Bernd Kannenberg (50 km Gehen) und Klaus Wolfermann, zudem Fünfkampf-Silber durch Heide Rosendahl.
„Ich war nur froh, dass es damals schon eine digitale Weitenmessung gab! Zwei Zentimeter sind doch nichts. Wenn mit einem Maßband gemessen wäre, wer weiß, ob das bei einer kleinen Unebenheit auf dem Rasen so genau gewesen wäre“, sagte Klaus Wolfermann, der das Wettkampfprotokoll von 1972 daheim hat. Die Differenz betrug demnach 2 Zentimeter und 6 Millimeter.
Wolfermann, schon in Mexiko 1968 Olympiateilnehmer, wo er in der Qualifikation ausgeschieden war, hatte zehn Tage vor den Spielen bei einem Testmeeting in München erstmals über 90 m geworfen. Er wusste, dass seine Form stimmt. Was er bei der Qualifikation am 2. September eindrucksvoll bewies. Morgens um halb elf war die Arena schon mit 80.000 Zuschauern voll besetzt. München feierte Tag für Tag die Leichtathletik, die Königin des Sports. Da übertraf er gleich im ersten Versuch mit 86,22 m deutlich die geforderte Norm von 80,00 m fürs Finale. So soll’s sein! „Die Qualifikation kann nämlich zu psychologischen Angstzuständen führen.“ Nicht aber bei Wolfermann an diesem Tag. „Ich war sehr früh morgens aufgestanden, hatte Gymnastik gemacht, dann gefrühstückt!“ Er verschwendete in der Qualifikation keine Energie, sparte Kraft für den Endkampf der zwölf Besten. Was sich tags darauf bei dem Zentimeter-Duell bezahlt machte.
Schlagartig berühmt
Der Gold-Wurf mit diesem minimalen Vorsprung machte ihn schlagartig berühmt, tags darauf wurde er bei einem Besuch der olympischen Schwimmbewerbe auf der Ehrentribüne zwischen US-Schauspieler Kirk Douglas und dem griechischen König Konstantin, selbst Olympiasieger im Segeln, platziert. Zudem schweißte der legendäre Wettkampf Janis Lusis (auch schon 1964 Olympia-Dritter) und Wolfermann zusammen, über den Eisernen Vorhang hinweg entstand zwischen den beiden eine innige Freundschaft. „Immer wieder war Janis bei mir zu Besuch, auch als Überraschungsgast bei meinem 60. Geburtstag!“ Regelmäßig fuhren Klaus Wolfermann und Janis Lusis zurück ins Olympiastadion, an die Stätte des sagenhaften Duells, schauten beim Essen vom Drehrestaurant des Olympiaturms auf das Stadion mit dem Zeltdach, frischten Erinnerungen auf. Auch seit Janis Lusis‘ Tod im April 2020 hielt Klaus Wolfermann mit dessen Sohn Voldemars, Olympiateilnehmer im Speerwurf von 2000 und 2004, Kontakt. Eine Freundschaft, die über Generationen hinweg hält.
Der 1,76 m große Klaus Wolfermann, in deutschen Medien als „der kleine Riese mit dem goldenen Arm“ gefeiert, zelebrierte sein Gold im Herbst 1972 bei Einladungen und Festen in vollen Zügen. „Im Januar 1973 aber bekam ich ein schlechtes Gewissen, dann trainierte ich wieder hart und besessen, mit vollem Einsatz!“ Sein Trainer bläute ihm ein, dass es mit den Erfolgen weitergehen könnte. „Warte mal ab, du bist als Olympiasieger jetzt entspannt. Du kannst dein Potenzial ausnutzen.“ Diese nutzte er fürwahr. Vor dem ersten Wettkampf im Frühjahr spürte er seine Hochform. „Zwei Tage vor dem Meeting warf ich beim Abschlusstraining den Frauenspeer 120 m weit. Das schaute gut aus“, lachte Wolfermann in der Erinnerung. In Leverkusen warf er dann am 5. Mai 1973 im zweiten Versuch mit 94,08 m Weltrekord. Damit löste er Janis Lusis auch als Weltrekordler ab, der im Jahr zuvor in Stockholm seine 93,80 m geworfen hatte.
Speerwurf war damals (auch) in Deutschland populär geworden. Die Zuschauer, so Klaus Wolfermann, begeisterten sich für jene Sportart, die eine ewig lange Tradition besitzt und ursprünglich nur eine Form der Jagd beinhaltete. Die Faszination liege, ohne eine andere Disziplin auch im Geringsten abwerten zu wollen, in der Eleganz, dem wunderbar zu beobachtenden, langen Flug des Speers, die leicht und sofort sichtbare Weite des Wurfs. Eine Faszination, die er in seinen Anfängen als Werfer selbst in den skandinavischen Ländern gespürt hatte. „Meetings in Schweden und Finnland zählten immer zum festen Bestand in meiner Wettkampfplanung. Wir fragten uns dann immer, was die im Norden anders machen als wir!“ Irgendwann fanden sein Trainer und er die Lösung. Ein kleines Mosaikstein bei dieser Dominanz sei, dass die Kinder wie gerade in Finnland immer wieder Speerwerfen im Fernsehen sehen würden und selbst früh mit Würfen in Berührung kommen: „Und sei es auch nur beim Werfen von Steinen ins Meer!“
Bei ihm war die Initialzündung eine andere. Nach dem Turnen als Bub („Mein Vater war ja Turner!“) kam er zum Handballsport. Mit 14 Jahren merkte er, welch enorm scharfen Wurf er hatte. Welche Kraft da in seinem Arm steckte. Was er auch beim Schlagball-Weitwurf sah, als sein Ball über 100 m weit flog. Dann probierte er es mal mit einem hölzernen Speer. Marke finnische Birke, die flog 45 m weit. Die Geburtsstunde des späteren Speer-Olympiasiegers.
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