Ende 2026 geht mit Sepultura eine der wichtigsten und größten Bands der Thrash-Metal-Historie in Pension. Grund genug, um mit dem verbliebenen Bandchef und Gitarristen Andreas Kisser über die Beweggründe und Motivationen zum Ende zu sprechen – ein sehr emotionales und tiefgründiges Gespräch über das unvermeidliche Ende, Palliativpflege und warum man offen über den Tod sprechen sollte.
Vor exakt 40 Jahren formierten sich Sepultura unter der Schirmherrschaft der Brüder Max und Igor Cavalera in Belo Horizonte. Über die Jahre entwickelte sich das Projekt zu einer der größten und beliebtesten Bands im globalen Thrash Metal. Aufgrund ihrer ärmlichen Herkunft brachten Sepultura nicht nur die Working-Class-Attitüde unverfälscht ans Tageslicht, mit den Klassikeralben „Beneath The Remains“ (1989), „Arise“ (1991), „Chaos A.D.“ (1993) und „Roots“ (1996) brachten sie Polit- und Systemkritik, als auch Tribal-Elemente in den Sound. Max verließ die Band 1996 im Streit, Bruder Igor 2006. Seit 1987 hält der deutschstämmige Andreas Kisser das Schiff unter wechselnden Mitgliedern auf Kurs.
An die Popularität der Frühzeit kommen die „neuen“ Sepultura seit rund 25 Jahren nicht mehr ran, neben einigen übriggebliebenen Fans von früher gewann man mit Sänger Derrick Green aber auch viele neue dazu. Im März 2024 gab Kisser bekannt, dass er die Band nach mehr als zwei Jahren Abschiedstour Ende 2026 mit einem großen Abschlusskonzert in São Paulo zu Grabe tragen will und sich neuen Aufgaben widmet. Nicht zuletzt der tragische Krebstod seiner Frau Patricia vor knapp drei Jahren hätte zu dieser Entscheidung geführt. Zum Abschluss streckt der 56-Jährige seine Hand auch noch einmal den Cavaleras entgegen, um einen würdigen und gemeinsamen Abschied zu zelebrieren. Das „Krone“-Interview ging dann vom geplanten Talk über den Sepultura-Abschied über zu einem Gespräch über das unvermeidliche Ende und was wir daraus lernen können.
„Krone“: Andreas, alle guten Dinge müssen irgendwann zu einem Ende kommen. Im Falle von Sepultura wird es voraussichtlich eine Show in São Paulo 2026 sein, bevor Sepultura in den Ruhestand gehen. Wie fühlt sich das an, jetzt in der letzten Runde einer mehr als 40-jährigen Karriere zu sein?
Andreas Kisser: Es fühlt sich großartig an, weil wir diesen Weg selbst so bestimmt haben. Vor drei Jahren habe ich das erste Mal mit den Bandkollegen, unseren Familien und Managern über ein Ende gesprochen. Ich fühlte einfach zu viel Druck beim Gedanken, noch ein Album zu schreiben. Dafür muss man zu 100 Prozent fokussiert und im Tunnel sein, es ist jedes Mal ein Husarenstück. Es wurde zu einer Art Routine und 40 Jahre Sepultura waren ein guter Markstein, um unsere Geschichte zu feiern. Wir haben den Corona-Lockdown überlebt, befinden uns in Hochform und haben 2020 mit „Quadra“ ein hervorragendes Album rausgebracht. Vor zweieinhalb Jahren verstarb meine Frau an Krebs. Die Palliativpflege, die Spitäler, die Ärzte und das ständig über einem schwebende Damoklesschwert des Todes – all das hat meine Perspektiven verändert. Wenn man die Endlichkeit respektiert, dann findet man viel mehr Intensität in der Gegenwart.
Freud und Leid lagen in den letzten Jahren bei dir unheimlich beieinander. Kann man mit so vielen Gefühlswallungen überhaupt gut umgehen?
Du schiebst nach solchen Erfahrungen nichts mehr auf morgen, sondern machst es jetzt. Du erfüllst dir deine Träume und Wünsche, du sprichst mit Menschen, um Probleme aus dem Weg zu räumen und du sagst den Menschen, die dir wichtig sind, schnurgerade heraus „ich liebe dich“, weil du nicht weißt, ob du je wieder die Chance dazu hast. Möglicherweise gibt es nämlich kein Morgen, das muss man akzeptieren und respektieren. Sepultura hat eine unglaubliche Geschichte und es fühlt sich richtig an, in einem tollen Moment der Band aufzuhören. Wir sind glücklich und respektieren uns gegenseitig – wir lieben uns. Wir sind in Frieden mit uns und der Band und der Zeitpunkt des Endes passt perfekt. Es ist ein Privileg, das Finale selbst entscheiden zu können und nicht zu alt, verbittert oder zerstritten auseinanderzugehen. Viele Fans haben Sepultura seit mehr als 40 Jahren durch alle Höhen und Tiefen verfolgt – wir schließen das Kapitel nun an einem Moment des Höhepunkts für uns.
Als deine Frau verstarb, hast du da auch den Stress des Lebens gespürt? Sepultura gehört zu den Bands, die am meisten arbeiten und touren, es bleibt kaum Zeit, um durchzuatmen. Ist es nun aber für dich notwendig, in Ruhe und Gemächlichkeit durchzuatmen?
Alles braucht ein Ende, um eine Bedeutung zu haben. Jeder Film, jedes Buch, jedes Interview, das kein Ziel kennt, ist nicht notwendig. Ein Ende bringt Perspektiven und Verständnis mit sich. Wir alle haben unsere Grenzen und müssen manchmal darüber reflektieren. Wir kennen unsere Vergangenheit. Unsere Highlights und unsere Fehler. Haben als Band alles oft analysiert. Ich bin dankbar für jede Erfahrung, die ich mit Sepultura machen durfte. Egal, ob sie gut oder schlecht war – am Ende des Tages sind wir wegen all diesen Erfahrungen, wo wir heute sind. Die Geschichte der Band ist fantastisch und unglaublich. Wir schließen das Kapitel auch nicht prompt und überhastet, sondern feiern noch fast zwei Jahre lang auf der ganzen Welt, bis es 2026 in São Paulo zum Abschluss kommt. Alle Menschen, die bei uns spielten oder mit der Band verbunden waren, sind dort eingeladen, um die allerletzte große Party zu feiern. Dann werden wir durchatmen und neue Ufer ansteuern. Wir sind noch immer motiviert und fühlen uns jung, ich gehe nicht in Pension. Ich studiere sehr viel klassische Gitarre und kenne weltweit so viele Musiker, die auch mit über 50 noch etwas ganz Neues begonnen haben. Warum auch nicht? Ich will jetzt aber keine Entscheidungen treffen, sondern den Moment genießen. Die Zukunft wird sich von selbst formen, wenn der jeweils richtige Zeitpunkt passt.
Ich kann mich dir sogar sehr gut vorstellen, einmal als klassischer Gitarrist durch edle Konzertsäle zu touren und dich ganz anders zu präsentieren.
So – oder ähnlich. Vielleicht nicht direkt Klassik, aber die Klassik war schon immer ein wichtiger Einfluss für mein Spiel. Ich habe einen eigenen Lehrer dafür und spiele so oft es geht, will immer mehr wissen. Ich will einfach mehr von dieser klassischen und akustischen Welt lernen und erfahren. Aber das ist nur eine von vielen Möglichkeiten. Mit unserem Sänger Derrick Green habe ich auch schon oft über ein Reggae-Projekt gesprochen. Das begann als Scherz, aber der Gedanke gefällt uns. Wir hätten sogar schon einen Namen dafür, aber den werde ich dir hier natürlich nicht verraten. (lacht)
Also Sepultura als Reggae-Version?
Die anderen Jungs interessiert das weniger, nur Derrick und ich mögen Reggae gerne. Derrick hat sehr viel Input aus dieser Szene zu Sepultura gebracht, als er zu uns stieß. Unser kleinster gemeinsamer Nenner sind die Bad Brains. Sie haben Hardcore mit Reggae, Religion und Rastafari vermischt. Das wäre also eine weitere Möglichkeit. Das Schöne ist, dass diese Art von totaler Freiheit zwar ein bisschen beängstigend sein kann, weil man keine klare Richtung weiß, aber auch extrem aufregend ist.
Hast du über die Jahre die Lust an aggressiver Musik verloren? Spürst du den Thrash Metal nicht mehr so stark wie früher?
Nein, gar nicht, aber ich beende dieses Kapitel meines Lebens aus Respekt vor der Musik. Das ganze Leben besteht strenggenommen darin, uns auf den Tod vorzubereiten, weil er unausweichlich ist. Wir tun das Beste, um ein gutes Leben zu haben. Wir trainieren, versuchen gut zu essen, Menschen zu lieben und respektvoll zu sein und wenn es dann Zeit ist zu gehen, kannst du sagen, du hast alles aus dir rausgeholt. Das ist meiner Ansicht nach der Sinn des Lebens – darum geht es. Viele Menschen schaffen es nicht, Kapitel in ihrem Leben zu beenden. Manchmal, weil sie Rechnungen bezahlen müssen, oft aber auch, weil sie zu stark am Konzept des Gewohnten festkleben. Man geht jeden Tag in eine Arbeit, die man hasst, aber muss trotzdem überleben, weil das Spiel nun einmal so läuft. Das Privileg zu haben, nein zu sagen, ist unglaublich schön.
Dieses Privileg haben nur die Wenigsten. Als Chef einer weltweit erfolgreichen Metalband ist Selbstständigkeit natürlich leichter zu vollziehen.
Ein guter Freund von mir ist Sportjournalist bei einer der größten TV-Sendergruppe in Brasilien. Irgendwann wusste er, er muss es bleiben lassen. Er war noch jung, wollte aber wieder durchatmen, die Perspektive neu schärfen und einfach etwas anderes tun. Es gibt in seinem Job keine Spitze und keinen zählbaren Erfolg. Du kannst nicht sagen, du hast jetzt das seltenste Vinyl von Iron Maiden in deinen Schrank gestellt, weil man den Job so nicht werten kann. Auch in der Band. Wir arbeiten jeden Tag hart und unsere Spitze ist das Leben, das wir heute führen. Aber man kann Erfolg nicht so leicht klassifizieren.
Viele Menschen lieben eure Musik, können sich mit ihr identifizieren und haben womöglich richtig persönliche Geschichten dazu erlebt. In so einer Band zu sein, heißt auch, große Verantwortung zu tragen und ein Provider von solchen Erlebnissen zu sein. Macht da ein Ende schwieriger? Werden dir Zuspruch und Applaus fehlen?
Wir sind eine Tour-Band und unser Daheim ist die Bühne – das war bei Sepultura immer so. Deshalb sehe ich mich selbst auch nirgends anders. Ich liebe die Bühne, das Performen und das einzigartige Gefühl, wenn du mit deinem Publikum live kommunizierst. Ich kann kein Studiomusiker oder YouTube-Gitarrist werden, den ganzen auf meinem Hintern setzen und ein Lick nach dem anderen zu spielen. Bei meinem allergrößten Respekt – ich will hier niemand entwerten oder bloßstellen, aber für mich funktioniert Musik und mein Leben nur mit der Bühne. In den schlechtesten Momenten waren es die Fans und die Konzerte, die mich wieder positiv gestimmt haben. So ein Gefühl kriegst du nur, wenn du live spielst. Aber nichts ist selbstverständlich. Ich muss jeden Tag aufs Neue das Beste aus Sepultura rausholen, damit sich auch alle gut fühlen und diese Verbindung mit den Menschen aufrecht bleibt.
Du hast es schon angesprochen, das in der Geschichte von Sepultura neben vielen Höhepunkten auch einige Tiefpunkte dabei waren. Gab es Momente, wo du davor warst, die Band aus Frust oder Aussichtslosigkeit hinzuschmeißen und aufzulösen?
Sehr oft sogar. In mehr als 40 Jahren passiert so viel, das ist ja mehr als ein halbes Leben. Ich kann mich aber nur an einen Moment erinnert, wo wir alle wirklich so genervt und fertig waren, das alles komplett auf der Kippe stand - als Max Cavalera Ende 1996 die Band verließ. Er war unser Frontmann, Sänger und das Gesicht der Band. Mit ihm verloren wir auch das Management und das Vertrauen von unserer Plattenfirma. Die gesamte Struktur, die die Band bislang ausmachte. Es hat mehr als zehn Jahre gebraucht, um die Band aufzubauen und so groß zu machen und dann brach alles ein wie bei einem Kartenhaus. Ich habe überlegt, ob wir uns umbenennen oder die Musik bleiben lassen sollen. Ich wollte ganz was anderes machen, aber dann haben wir ein paar Monate pausiert, um im Kopf wieder klar zu werden. Das war wichtig, um uns Fragen zu stellen. Machen wir als Trio weiter? Ändern wir den Namen? Hören wir auf? Holen wir einen neuen Sänger? Soll ich ab jetzt singen? Dann kam Derrick in die Band und wir hatten plötzlich wieder einen Grund, um weiterzuleben.
War die Integration von Derrick Green die notwendige Revitalisierung der Band, die kurz davorstand, zu sterben?
Zu einem gewissen Teil ja und all diese harten Momente voller Zweifel haben mich und die anderen so resilient gemacht, dass wir alle weiteren Krisen im Vergleich dazu locker überstanden. Ich habe verstanden, dass man vor Problemen nicht davonrennen kann, sondern sie konfrontieren muss. Vor allem dann, wenn es wirklich ungemütlich wird. Natürlich könnte ich mich umdrehen, etwas anderes machen und nie wieder zurückblicken, aber die Band war immer ein elementarer Teil meines Lebens. Wir haben Interviews, wir haben mit Fans geredet und uns selbst hinterfragt. Das ist Teil des Jobs und gehört dazu. Ich bin hier, um Gitarre zu spielen, auf die Bühne zu gehen und Menschen zu begeistern. Das ist ein großes Privileg, aber mit Privilegien kommt auch viel Verantwortung. Das habe ich damals verstanden.
Du hast in einem Interview schon betont, dass du das Kriegsbeil mit Max Cavalera endlich begraben möchtest und auch er eingeladen ist, um bei der letzten Show 2026 in São Paulo auf die Bühne zu kommen …
Ich will einfach alle Menschen dabei haben, die jemals etwas mit Sepultura zu tun hatten. Wir haben über diese Einladungen gesprochen, sie aber noch nicht offiziell ausgeschickt, weil uns noch das genaue Datum dazu fehlt. Ende 2026 soll es so weit sein und bis dahin wollen wir alles arrangiert haben. Jairo, Eloy, Max, Igor und alle anderen, die jemals irgendwie ein Teil dieser Familie waren, sollen für diesen Abend wieder in den Schoß der Familie zurückkehren. Es soll eine große Party, eine einmalige Jam-Session werden. Schauen wir mal, wer kommt und was passiert. Ich hoffe, dass so viele wie möglich der Einladung folgen werden, aber auch wenn jemand nicht kommt – die Party wird so und so steigen.
Nicht nur die Zeiten ändern sich, sondern mit den Zeiten auch die Menschen. Du bist heute sicher auch eine völlig andere Persönlichkeit als vor 30 Jahren. Würdest du dich heute als ruhiger, verständnisvoller und in dir selbst ruhender beschreiben?
Oh ja, und zwar in jeder Hinsicht. Manchmal müsste ich mir Brillen aufsetzen, um all die Veränderungen genau zu sehen, aber sie sind definitiv passiert. Ich habe meine Frau verloren, mit der ich 32 Jahre zusammen war und drei Kinder habe, die allesamt fantastisch sind. Aber der Verlust von Patricia hat alles verändert. Ein großer Teil von mir ist mit ihr gestorben, aber ein noch größerer Teil kam dadurch in mir auf die Welt. Über die Endlichkeit und das Sterben offen und ehrlich zu sprechen ist das Beste, was wir Menschen dazu tun können. Du lebst dein Leben ganz anders, viel intensiver, wenn du dir das immer wieder gewahr machst. Ich habe mir diesen Weg nicht ausgesucht, das Leben hat mich in die Richtung gedrängt. Ich lerne, mit diesem Prozess zu leben und habe in Brasilien eine Bewegung gegründet, die Menschen dazu animieren soll, offen über den Tod zu reden – inspiriert von Patricias Leben. Meine Frau und ich haben vor ihrem Tod ein Festival organisiert mit mehr als 60 brasilianischen Musiker unterschiedlichster Stile, um Geld für die Palliativpflege zu sammeln für die Favelas in São Paulo, Rio de Janeiro und Minas Gerais. Wir müssen über Themen wie Euthanasie, assistierten Selbstmord, Palliativpflege und Krebs offen reden, weil so viel tabu ist und man dadurch nicht weiterkommt.
Viele Menschen verschließen die Augen davor, weil man sich damit automatisch in eine Negativspirale begibt. Freiwillig und ohne wirklich Gründe dafür zu haben.
Natürlich sind das ungemütliche Themen. Sie sind hart, aber notwendig. Je mehr man darüber spricht, umso besser ist man darauf vorbereitet, wenn es passiert. Der Tod ist immer traurig und schmerzhaft, aber wenn wir uns im Leben damit auseinandersetzen, können wir auch das Gefühl für Endlichkeit verbessern. Wir alle werden sterben, früher oder später – das ist die Realität und mit der müssen wir klarkommen. Ich bin heute viel ruhiger und verständnisvoller, vor allem was meine zwei Söhne und meine Tochter angeht. Ihre Mutter zu verlieren war sehr hart, sie war ein elementarer und aktiver Teil in unser aller Leben. Das ist noch keine drei Jahre her, aber wir haben Wege gefunden, damit klarzukommen und weiterzuleben. Wir begegnen Herausforderungen und Situationen im Leben anders, sehen viele Dinge aus anderen Augen. Es haben sich Fenster geöffnet, die noch nicht einmal sichtbar waren, als wir noch zu fünft waren. Wir haben beim Sterben keine Wahl, das ist nicht unsere Entscheidung. Im Leben wird man geboren und stirbt – das sind die zwei einzigen Konstanten. Alles, was dazwischen liegt, liegt total bei uns.
Das Leben so voll wie möglich zu leben ist immer das größte Ziel, aber es ist nicht allen vergönnt. Das Ende ist zwar unausweichlich, wird aber immer ein schweres Thema bleiben, das viele von sich wegstoßen möchten.
Natürlich, aber es wird nun einmal passieren. Wenn wir das respektieren und uns gewahr machen, haben wir eine viel gesündere Beziehung zu unserem Leben. Man ist viel stärker im Frieden mit sich selbst. Meine Frau hat sehr offen und locker über den Tod gesprochen, schon am Anfang, als wir uns noch zu den ersten Dates trafen. Sie sagte mir immer, wenn sie sterben müsste, sollte ich nicht Kopfpolster, Decke und Pyjama vergessen, weil sie Angst hätte, es würde ihr im Sarg kalt werden. Natürlich haben damals alle darüber gelacht, aber als es dann doch passierte, wussten wir ganz selbstverständlich, was zu tun ist. Man kann das Gefühl in einem nicht mit Worten beschreiben, wenn man diese Wünsche einer geliebten Person auf ihrem letzten Weg erfüllen kann. Wir haben das alles in den Sarg gegeben und das hat uns als Familie noch näher zusammengebracht. Das war der Moment, wo ich wusste, man muss viel offener über das Ende reden. Über unsere letzten Wünsche, über Erbe, über so viele Dinge, die passieren und mit denen Menschen, die nach einem Tod emotional ohnehin schwer angeschlagen sind, ad hoc entscheiden müssen. Jeder will diese Themen auf morgen verschieben, aber wenn du heute darüber sprichst, kommst du im Todesfall viel besser mit allem klar.
Der Tod passiert sehr oft spontan, wo niemand wirklich damit rechnet. Zurück bleiben Ungewissheit, Leere und Überforderung.
Du bist im schlimmsten Moment deines Lebens und musst die wichtigsten Entscheidungen des Lebens treffen. Im Affekt sagst du vielleicht Dinge zu deinen geliebten Nachkommen, die du in deiner Überforderung gar nicht so gemeint hast, die sich aber nicht mehr rückgängig machen lassen und vielleicht für immer einen Keil zwischen euch treiben. Beim Tod eines geliebten Menschen ist jeder im Umkreis im Ausnahmezustand. Aber sehr viel kannst du im Vorfeld lösen und organisieren, damit du dann besser mit deinen Emotionen klarkommen kannst, weil die Bürokratie und das Nicht-Emotionale bereits erledigt sind. Auch das sind Dinge, die ich den Menschen in Brasilien gewahr machen möchte. Länder wie Kolumbien oder Chile sind in Südamerika bei Themen wie Sterbehilfe und Tod viel weiter und progressiver. Brasilien ist aber ein so großes Land, dass es schwer ist, eine einheitliche Lösung zu finden, mit der alle leben können. Unsere Bewegung wächst und ist auf dem richtigen Weg und ich sehe, dass die Leute auch viel offener darüber reden wollen. Wir dürfen nur nicht nachlassen.
Nachdem du seit knapp drei Jahren so offen und klar über da Thema Tod redest – hast du mittlerweile selbst die Angst davor verloren?
Ich hatte nie die Angst vor dem Tod, sondern die Angst, nicht mehr zu leben, wenn du verstehst, was ich meine. Zwischen diesen beiden Polen liegt ein großer Unterschied. Es ist heute ja lustig, aber ganz am Anfang hatte ich große Flugangst, als wir erstmals aus Brasilien rauskamen, um in Europa und den USA zu spielen. Ich sah dann ein Foto von John Lennon und Paul McCartney mit deren Frauen in einem Flugzeug und dachte mir ganz profan, dass wenn die zwei größten Musiker der Welt keine Angst vorm Fliegen hätten, ich auch keine haben müsste. Das ist alles nur psychisch. Ich war schon Fallschirmspringen, Bungeespringen und vieles andere – manchmal auch eher dumm und unachtsam. Beim Fallschirmsprung waren meine Frau und ich gemeinsam am Start. Das ist rückblickend dumm, denn wenn was danebengeht, haben die Kinder überhaupt keine Eltern mehr. Heute lebe ich sehr sicher. Ich bin viel im Fitnesscenter, trinke nicht, meditiere und ernähre mich gut. All das hat mir auch gut dabei geholfen, die emotionalen Turbulenzen zu überstehen und auch mit den Tiefschlägen zu leben. Ich will einfach so gut in Form sein, dass ich den Rest meines Lebens so gut wie möglich genießen kann.
Kommentare
Willkommen in unserer Community! Eingehende Beiträge werden geprüft und anschließend veröffentlicht. Bitte achten Sie auf Einhaltung unserer Netiquette und AGB. Für ausführliche Diskussionen steht Ihnen ebenso das krone.at-Forum zur Verfügung. Hier können Sie das Community-Team via unserer Melde- und Abhilfestelle kontaktieren.
User-Beiträge geben nicht notwendigerweise die Meinung des Betreibers/der Redaktion bzw. von Krone Multimedia (KMM) wieder. In diesem Sinne distanziert sich die Redaktion/der Betreiber von den Inhalten in diesem Diskussionsforum. KMM behält sich insbesondere vor, gegen geltendes Recht verstoßende, den guten Sitten oder der Netiquette widersprechende bzw. dem Ansehen von KMM zuwiderlaufende Beiträge zu löschen, diesbezüglichen Schadenersatz gegenüber dem betreffenden User geltend zu machen, die Nutzer-Daten zu Zwecken der Rechtsverfolgung zu verwenden und strafrechtlich relevante Beiträge zur Anzeige zu bringen (siehe auch AGB). Hier können Sie das Community-Team via unserer Melde- und Abhilfestelle kontaktieren.