Der Mensch strebt nach Perfektion, Selbstoptimierung ist zu einem Merkmal unserer Zeit geworden. Dass ein Makel aber auch seine Vorteile haben kann, veranschaulicht „Krone“-Kolumnist Robert Schneider mittels einer kleinen Parabel.
Im Tara-Gebirge, am südlichen Ufer der Drina, streckte eine junge, unschön wachsende Fichte ihre hängenden Äste aus und begann zu lamentieren. „Hätte ich auch so eine schöne und schmale Krone wie die da drüben. Ich wäre zufrieden und würde nicht mehr jammern.“ Die kleine Fichte blickte neidisch zum gegenüberliegenden Ufer, wo die ersten Sonnenstrahlen eine Jungtanne ihres Alters mit gleißendem Morgenlicht übergossen und ganz außerordentlich ins Bild setzten. Nur sie schien auserwählt, von allen Fichten zuerst gesehen zu werden. Sie war von geradezu perfektem Wuchs, vollkommen symmetrisch beastet und mit einer pagodenartigen, schmal-kegligen Krone ausgestattet. An dem Baum war kein Makel zu finden. Seine kurzen, hängenden Äste liefen ringsherum formvollendet zu aufwärts gerichteten Spitzen aus. Sein Stamm war dünn und kerzengerade.
„Ich mag dich so, wie du gewachsen bist“, entgegnete die Mutter der kleinen Fichte, „deine zu kurzen Arme, die schiefe Krone, den langen Hals. Das macht dich unverwechselbar.“ – „Ich will aber aussehen wie die da drüben!“, wisperte die kleine Fichte. „Mich schaut keiner an. Aber, bei der da drüben bleiben die Wanderer stehen und sagen: ’Schaut, ist das eine schöne Fichte!’“ – „Manchmal ist der Makel der größte Schutz“, antwortete die Mutter, aber die kleine Fichte hörte es nicht, sondern maulte unentwegt vor sich hin.
Es wurde Winter, ein harter. Traktorenlärm erfüllte die Ufer beidseits der gefrorenen Drina. Motorsägen wurden angeworfen. Ein Holzfäller blieb vor der kleinen Fichte stehen und wollte schon das Schwert ansetzen. „Die nicht!“, rief der Waldaufseher. „Unverkäuflich. Siehst du die, dort am anderen Ufer? Das wird ein prachtvoller Weihnachtsbaum.“
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