Kein Ende der Gewalt

Jede zweite Misshandlung im Land bleibt unerkannt!

Österreich
09.01.2025 06:00

Über Gewaltverbrechen in der Familie wird oft der Mantel des Schweigens gebreitet. Die Zahl an Wegweisungen & Co. ist rückläufig, die Dunkelziffer bei Delikten hoch – auch Gutachter-Legende Christian Reiter fürchtet viele unentdeckte Gewalttaten. Ein neues Zentrum bietet Hilfe für Opfer.

Die Zahlen sind dramatisch. In Österreich ist jede dritte Frau Opfer von körperlicher und/oder sexueller Gewalt. Vieles spielt sich innerhalb der eigenen vier Wände ab, also dort, wo sich Frauen am sichersten fühlen sollten. Die Politik hat einige Maßnahmen gesetzt. Dazu zählt das erweiterte Betretungs- und Annäherungsverbot, das ein automatisches Waffenverbot nach sich zieht, und die verpflichtende Beratung für Gewalttäter.

Täglich werden im Schnitt 40 Betretungsverbote ausgestellt. Auch das Präventionspersonal in der Polizei wurde aufgestockt. Opfer schämen sich aber oft, Hilfe anzunehmen, bei ärztlichen Checks sprechen sie von einem „Unfall“.

Neue Gewaltambulanzen sollen Hilfe bringen
Am Mittwoch wurde an der Wiener MedUni eine neue Ambulanz für Gewaltopfer eröffnet, eine erste Anlaufstelle für Betroffene. „Die Untersuchungsstelle spielt eine zentrale Rolle in der Unterstützung von Gewaltopfern und bietet allen Menschen kostenfrei und ohne Hürden Zugang zu ihren Leistungen“, sagt Nikolaus Klupp, Gerichtsmediziner und Leiter des Zentrums.

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Diese Einrichtung ermöglicht auch eine Sensibilisierung für die Anliegen von Gewaltopfern innerhalb der medizinischen Berufe.

(Bild: Urbantschitsch Mario/Mario Urbantschitsch)

Markus Müller, Rektor der MedUni Wien

Neben der Dokumentation von Verletzungen sowie der Sicherung von Spuren an Körper und Kleidung erhalten Patienten umfassende Informationen zu weiteren Unterstützungsangeboten, wie der Vermittlung an Opferschutzeinrichtungen, psychologische Betreuung oder rechtliche Beratung. Für Ärzte steht zudem eine telefonische Fachberatung zu klinisch-forensischen Fragestellungen zur Verfügung. In Fällen, in denen keine Anzeige erstattet wird, werden die gesicherten Spuren bis zu zehn Jahre lang aufbewahrt, sodass sie bei Bedarf in einem Strafverfahren verwendet werden können. Man rechnet mit bis zu 1000 Patienten pro Jahr!

Spuren der Gewalt im Fokus: In Graz und Innsbruck gibt es bereits erste Gewaltambulanzen ... (Bild: © Helmut Lunghammer)
Spuren der Gewalt im Fokus: In Graz und Innsbruck gibt es bereits erste Gewaltambulanzen ...
... jetzt folgt auch die Bundeshauptstadt. Klupp und Ärztin Katharina Stolz stehen hier im Einsatz. (Bild: Urbantschitsch Mario/Mario Urbantschitsch)
... jetzt folgt auch die Bundeshauptstadt. Klupp und Ärztin Katharina Stolz stehen hier im Einsatz.

Häusliche Gewalt und Frauenmorde rückläufig
Auch im Vorjahr gab es, laut Bundeskriminalamt, kein Ende der Gewalt zu bejubeln. Was aber gelang, ist ein Sinken der Zahlen. Zwar werden diese teils noch erhoben, doch bereits bei den rund 14.500 Betretungs- und Annäherungsverboten im Jahr 2024 wurde im Vergleich zu den Vorjahren wieder eine erhebliche Verringerung erzielt. 2024 ereigneten sich zudem 20 Morde an Frauen mit Bezug zu Gewalt in der Privatsphäre – 24, wenn man ein erst acht Tage altes Opfer sowie auch fünf, acht und 13-jährige Opfer in den Blutzoll einbezieht.

Der blutigste Tag der vergangenen zwölf Monate war übrigens der 23. Februar. An diesem Freitag wurden zuerst eine 51-Jährige und eben ihre erst 13-jährige Tochter tot in einer Wohnung in Wien-Landstraße entdeckt und später wurden im 20. Gemeindebezirk drei erstochene Frauen in einem Asia-Studio aufgefunden. Die Täter wurden in beiden Fällen gefasst, aber was bleibt: Die Dunkelziffer an Gewaltverbrechen gegen Frauen und Kinder bleibt hoch. Es vergeht fast kein Tag, an dem nicht eine Anzeige gelegt werden müsste.

Gerichtsmediziner Christian Reiter:
Den Tätern hilft Sparstift bei der Gerichtsmedizin

Universitätsprofessor Christian Reiter hat über Jahrzehnte dabei geholfen, die spektakulärsten Kriminalfälle der Republik zu klären, und Heerscharen von Gerichtsmedizinern ausgebildet. Die neue Wiener Ambulanz für Gewaltschutzopfer hält er für eine „sehr wichtige Einrichtung“, aber nur die „zweitbeste Lösung“. Die beste Lösung wäre für ihn, wenn die Gerichtsmedizin wieder mit ausreichend Geld und Personal ausgestattet wäre.

Früher habe etwa die Wiener Gerichtsmedizin – bei weit kleinerer Bevölkerungszahl – 16 Ärzte umfasst, heute nur noch drei, gibt er zu bedenken. Reiter will nicht ausschließen, dass dadurch „nur die Hälfte der Fälle, die angeklagt werden müssten, gerichtsanhängig wird“ – weil es zu wenige Spezialisten gibt, die Gewalttaten nachweisen oder überhaupt erst entdecken.

Abgesehen vom Sparen am Personal hält Reiter es auch für grundfalsch, dass Gerichtsmedizin seit rund 20 Jahren kein verpflichtender Prüfungsgegenstand im Medizin-Studium ist: „Das sind inzwischen Oberärzte, die diesbezüglich schon nicht mehr ausgebildet wurden.“ Umso wichtiger sei die Gewaltschutzambulanz in Wien.

Christian Reiter hofft, dass die neue Ambulanz das „Problembewusstsein“ bei Medizinern wieder schärft und damit mehr Tätern das Handwerk gelegt werden kann. (Bild: picturedesk.com/Isabelle Ouvrard / SEPA.Media / picturedesk.com)
Christian Reiter hofft, dass die neue Ambulanz das „Problembewusstsein“ bei Medizinern wieder schärft und damit mehr Tätern das Handwerk gelegt werden kann.

Aus einem Stich soll in den Akten kein Schnitt werden
Aus Reiters Sicht geht es bei der Ambulanz nicht nur um ein Angebot für Opfer von Gewalt, sondern gerade auch für die Mediziner, die diese Opfer als Erste behandeln. Junge Ärzte hätten oft „kein Problembewusstsein“, wenn es um die Dokumentation von Verletzungen für allfällige Prozesse geht: „Dem ist vielleicht völlig wurscht, ob er einen ,Stich‘ oder einen ,Schnitt’ dokumentiert. Vor Gericht ist das aber unter Umständen entscheidend.“ Mit der neuen Ambulanz gebe es aber nun „telemedizinische“ Hilfe für Kollegen durch ausgebildete Gerichtsmediziner.

Reiter ist überzeugt, dass das Angebot kollegialer Hilfe gerne angenommen wird. „Das gibt ja jedem Arzt ein besseres Gefühl, wenn er weiß, dass er das richtig macht.“ Und vielleicht könne das Angebot sogar Lücken in der Ausbildung kompensieren: „Wenn er 20 Mal anruft und entsprechende Unterstützung bekommt, dann weiß er beim 21. Mal schon selbst, wie er Verletzungen dokumentieren muss.“

Die Opfer, so betont Reiter aber, sollten sich vor allem um ihr Wohlergehen und erst dann um Gerechtigkeit kümmern: „Wenn Ihnen links und rechts das Blut runterrinnt, dann schauen Sie, dass Sie ins nächste Spital kommen!“

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