Sechs Jahre nach ihrem letzten Album meldet sich die britische Art-Pop-Künstlerin FKA Twigs auf „Eusexua“ freizügig und technoid zurück. Angespornt von der nächtlichen Club-Szene in Prag erschuf die 37-Jährige ein klangliches Manifest für Loslösung, Freiheit und das Animalische.
Irgendwo zwischen der beständigen Unsicherheit und dem kontinuierlichen Gehetztsein auf dieser Welt, verlieren Menschen zunehmend den Mut zur Ästhetik. Große, multidisziplinäre Kunst entsteht zumeist aus dem bewussten Entrücken aus dem Alltäglichen. Daraus, dass man eine möglichst vorurteilsfreie und zutiefst abnorme Position bezieht, die kein Ergebnis, sondern einen spannenden Weg dorthin als wichtigstes Ziel verfolgt. In dieser immer enger werden Ritze der Gesellschaft hat sich Tahliah Debrett Barnett eingenistet, um Musik vielleicht nicht neu zu erfinden, aber mit einem Überraschungsmoment und einem untrüglichen Gespür für das Abstrakte zu versetzen. Unter ihrem artifiziellen Pseudonym FKA Twigs veröffentlichte sie 2014 ihr Debüt „LP1“, 2019 das feingliedrige „Magdalene“ und 2022 das als Mixtape veröffentlichte „Caprisongs“ – allesamt künstlerische Klangwürfe in extraterrestrischen Sphären.
Querbeet multidisziplinär
Eingenistet hat sich FKA Twigs irgendwo auf dem Planeten R&B, hoppt in der Sound-Galaxis aber auch gerne in Richtung Art Pop, Trip-Hop oder Hyperpop aus. Während FKA Twigs sich musikalisch zunehmend eine eigene Welt eroberte, hat sie sich längst auch in anderen künstlerischen Bereichen eingenistet. Wie keine zweite fusioniert sie cineastische Looks mit bildnerischer Kunst, mutiger Mode und ausufernden Klangderivaten. Wagemutige, die keinen Zorn der Altvorderen fürchten, vergleichen sie gerne mit David Bowie, realistischer ist vielleicht eine Linienziehung zur isländischen Pop-Neuerfinderin Björk, die sich zeit ihres Lebens ebenso willfährig wie neugierig gerne jedes Mal von Neuem ins kalte Wasser stoßen lässt.
Ihr Drittwerk „Eusexua“ trägt FKA Twigs schon länger schwanger. Bei einer Kunst-Party in New York hat die in London wohnhafte Globetrotterin das Album in kleinem Kreis schon letzten August vorgestellt, der Öffentlichkeit schob sie aber noch Monate später einen Riegel vor. Immerhin durften sich Dürstende im vergangenen Herbst bereits an drei Single-Auskoppelungen laben. Der Titeltrack erweist sich als pumpendes Berghain-Techno-Monstrum, „Perfect Stranger“ zeigt FKA Twigs einen Monat später von einer etwas entspannteren Seite, während das Mitte November veröffentlichte „Drums Of Death“ wiederum wild durch die Party-Botanik knüppelt und einmal mehr klarmacht, dass Frau Barnett in ihren Enddreißigern noch einmal so richtig gerne über die Tanzfläche fegt.
Durch die Nächte tragen lassen
Der elektronisch-technoide Ausschlag des neuen Meisterwerks hat eine europäische Vorgeschichte. Für das im Kino schwer gefloppte Remake des Kultstreifens „The Crow“, in dem FKA Twigs die Rolle von Shelly Webster bekleidete, war die Künstlerin vor knapp drei Jahren eine Zeit lang in Prag für Dreharbeiten unterwegs. Sie tauchte tief in die elektronische Underground-Musikszene der tschechischen Hauptstadt ein und ließ sich vom pulsierenden und vor allem maschinellen Sound-Chic und der Rohheit Osteuropas durch die Nächte tragen. Das bereits angesprochene „Drums Of Death“ ist in seiner Ungeschliffenheit und Kompromisslosigkeit eine direkte Geburt schwitziger Stroboskop-Partys, die mit reichlich Cocktails und wohl auch so manch semilegaler Substanz gefüttert wurden. Ein Gefühl der Komplettierung habe die Künstlerin zuweilen erlebt, gab sie im Vorfeld zum Album kund, sie habe quasi den Gipfel der menschlichen Erfahrungen gespürt.
Genau dahin geht auch die Bedeutung des Albumtitels. Das Werk soll ein Gefühl der Transzendenz zwischen Kunst, Musik, Sex und der Gemeinschaft bilden. Unendliche Möglichkeiten sollen heraufbeschworen werden, man würde sich direkt vor einem Orgasmus befinden. Das Schöne am großspurig wirkenden Marketing-Text der Künstlerin: man kann ihm zuweilen Recht geben. „Eusexua“ ist bei Weitem keine Neuerfindung der osteuropäischen Techno-Welt mit britischen und amerikanischen Querbezügen, aber durch die Ehrlichkeit und Frische, die Songs wie „Girl Feels Good“, „Room Of Fools“ oder „Striptease“ vermitteln, kann man sich hervorragend in das breite Klangnetz der Künstlerin fallen lassen. FKA Twigs erhebt das Pulsierende zu einer Philosophie und erzählt damit auf einer Metaebene noch mehr, als die bloßen Songs im ersten Anlauf zu vermitteln vermögen.
Nur wenige Risse
Nur selten kriegt die hohe Qualität des Albums leichte Risse. Bei den beiden kürzesten Tracks merkt man deutlich, dass FKA Twigs dann am stärksten ist, wenn sie ihren Klängen Raum zur Entfaltung lässt. „Sticky“ wirkt mit seinen knapp drei Minuten in mehrfacher Hinsicht überhastet, „Childlike Things“ versucht eine Art simple Nostalgie zu evozieren, kann in seiner gewollten Verspieltheit aber nicht mit den anderen Songs mithalten. „Eusexua“ ist trotz der wenigen Kinderkrankheiten ein frühes Jahreshighlight, das im technoid-poppigen Bereich die Latte für eventuelle Mitbewerberinnen in diesem Jahr bereits sehr hoch legt. FKA Twigs bleibt ihrer Linie treu, keinen bereits gezogenen Linien zu folgen. Aus dieser Grundhaltung entstehen eben wahre Größen.
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