Nach dem Ersten Weltkrieg wagte sich die Wiener sozialdemokratische Stadtregierung an eine in Europa einzigartige neue Sozialpolitik. Wie das „Rote Wien“ entstand und was dessen Erfolg mit einem plötzlichen Geldregen zu tun hat, erklärt der Historiker und Wien-Experte Wolfgang Maderthaner.
Zur Geschichte der Ersten Republik gehört natürlich das berühmte „Rote Wien“. Wann taucht dieser Begriff zum ersten Mal auf?
Das „Rote Wien“ als Terminus ist zunächst einmal ein politischer Kampfbegriff – und zwar der Gegner. Der Begriff hatte zunächst eine abwertende Note; die Sozialdemokraten selbst sprachen vom „neuen Wien“. Erst viel später, in der Zeit um 1929/30, als die schwere Weltwirtschaftskrise auch hier angekommen ist, hat man versucht, diesen einstigen Kampfbegriff positiv zu besetzen: „Ja, das sind wir!“ – man hat also versucht, einen inklusiven Begriff daraus zu machen.
Zu dieser Zeit erleben wir den Übergang des jahrhundertealten, multinationalen Habsburgerreichs zur ganz kleinen österreichischen Republik mit den Alpenprovinzen und dem „Wasserkopf Wien“.
Wolfgang Maderthaner über Österreich nach dem Ersten Weltkrieg
Zum anderen steht der Begriff „Rotes Wien“ für eine bestimmte Politik der Wiener Gemeindeverwaltung in der Zeit von März 1919 – dem Datum der ersten Gemeinderatswahlen nach allgemeinem, gleichem und geheimen Wahlrecht für beide Geschlechter – bis zum Februar 1934, den drei Tagen des österreichischen Bürgerkrieges. In dieser Zeit beginnt ein kommunales Experiment: Die Gemeinde betreibt eine ganz bestimmte Form von Sozialpolitik, die für das damalige Europa einzigartig war. Es gab zwar ähnliche Experimente in Frankfurt oder Zürich, aber in dieser Form, Sozialpolitik zu begreifen, ist in Wien einzigartig gewesen.
Warum wurde gerade Wien zum Schauplatz dieses einzigartigen, kommunalen Experiments?
Das ist eigentlich das Ergebnis einer historischen Ironie und einer historischen Anomalie. Zu dieser Zeit erleben wir den Übergang des jahrhundertealten, multinationalen Habsburgerreichs zur ganz kleinen österreichischen Republik mit den Alpenprovinzen und dem „Wasserkopf Wien“ – Wien war ja viel zu groß für diese kleine Republik. Man beauftragt nun Hans Kelsen mit der Ausarbeitung einer Verfassung und schnell stellt sich heraus, dass es hier zwei Positionen gibt: Die Sozialdemokraten forcieren einen Zentralismus, die Bundesländer einen Föderalismus. Beide Seiten haben ihre logischen Argumente. In dieser Diskussion unterliegen jedoch die Sozialdemokraten – die Bundesländer setzen sich mit ihrer stark föderalistischen Konzeption durch. Eine Folge davon ist, dass Wien nun ein eigenes Bundesland wird und die Stadt damit – neben den bisherigen Kommunalsteuern – aus dem Finanzausgleich und den Landesteuern, die jetzt erhoben werden können, eine zusätzliche finanzielle Basis bekommt.
Die großen Vermögen hat die Inflation weggeschmolzen. Die Gemeinde hatte zwar jetzt das Recht, Steuern einzuheben, doch bei der galoppierenden Inflation war praktisch nichts mehr da, was man hätte besteuern können.
Wolfgang Maderthaner über die wirtschaftliche Situation dieser Zeit
Weil Wien Bundesland wurde, standen der sozialdemokratischen Stadtregierung also plötzlich unvorhergesehene Geldmittel zur Verfügung?
Ja, und zwar nicht zu wenig – obwohl anfangs die Gelder noch nicht wirklich sprudelten. Wir befinden uns ja noch mitten in der Inflationszeit und dürfen nicht vergessen, dass das traditionelle Wiener Bürgertum, das über Jahrhunderte den Reichtum dieser Stadt geschaffen hat, finanziell völlig eingebrochen war. Die großen Vermögen hat die Inflation weggeschmolzen. Die Gemeinde hatte zwar jetzt das Recht, Steuern einzuheben, doch bei der galoppierenden Inflation war praktisch nichts mehr da, was man hätte besteuern können.
Der Historiker war Generaldirektor des Österreichischen Staatsarchivs und Leiter des Vereins für Geschichte der Arbeiterbewegung. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen u.a. die Massen- und Populärkultur, Theorie der Stadt und urbane Anthropologie.
Zuerst musste man also diese Inflation in den Griff bekommen. Und hier haben wir wieder eine historische Ironie – denn eigentlich hat die Sozialdemokratie die Genfer Protokolle, als Maßnahme gegen die Hyperinflation, bekämpft. Aber durch die letztlich erfolgreiche Eindämmung der Inflation gewann man in Wien neue Steueroptionen.
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