Künstliche Intelligenz, rassistische Tweets und eine Kontroverse um Intimitätsstandards. Das Oscar-Rennen war für die längste Zeit das pure Chaos. Nun, da Sean Bakers US-Indiedrama „Anora“ von drei richtungsweisenden Organisationen zum „Besten Film“ gekürt wurde, scheint es einen Spitzenreiter in der Königsdisziplin bei den 97. Oscars, die heute Nacht vergeben werden, zu geben.
Der letztjährige Gewinner des Oscars für den besten Film, Christopher Nolans „Oppenheimer“, war ein allseits bewunderter Favorit. Weder Strategen noch Experten, noch sonst jemand in der Branche hatte jedoch in der aktuellen Awardsaison eine Ahnung, welcher Film sich als Favorit in der Königsdisziplin herausstellen würde. Das US-Branchenblatt „Variety“ nannte es „das Jahr ohne Frontrunner“.
Vom Under- zum Topdog
Und dann war da „Anora“, eine freimütige und stylishe Auseinandersetzung mit dem Leben einer Sexarbeiterin aus Brooklyn, die sich in ein verhätscheltes Oligarchensöhnchen aus Russland verliebt. Sean Bakers („The Florida Project“) Tragikomödie hat im Mai 2024 die Goldene Palme in Cannes gewonnen (der erste US-Film, der das seit über einem Jahrzehnt geschafft hat), aber seit der Weltpremiere hatte er außerhalb von Kritikerkreisen keinen großen Erfolg mehr.
Eine Kontroverse gab es auch. Die 25-jährige Hauptdarstellerin Mikey Madison hatte für ihre Rolle als Stripperin und Prostituierte eine Intimitätskoordinatorin abgelehnt, wodurch sie in den Augen einiger Kritiker diese neue, wichtige Regel in Hollywood brach. Bei den Golden Globes wurde Bakers Film jedenfalls links liegen gelassen.
Aber offenbar hatte sich der aktuelle Favorit einfach direkt vor den Augen aller versteckt. „Anora“ gewann sowohl den Regie- und Produzentenpreis seines Landes, als auch den Preis für den besten Film bei den Critics Choice Awards. Es kommt äußerst selten vor, dass ein Film diesen Dreifachsieg feiert und dann nicht den Hauptpreis bei den Oscars mit nach Hause nimmt.
Kritik an KI-Nutzung
Die einstigen Branchenlieblinge, das Einwandererdrama „Der Brutalist“ und das Narcomusical „Emilia Pérez“ haben in den vergangenen Monaten viel negative Presse bekommen. Erstgenanntes ist ein dreieinhalbstündiges Emigrationsepos mit Oscarpreisträger Adrien Brody („Der Pianist“) als ungarischer Holocaustüberlebender, der in die USA flieht, nur um mitanzusehen, wie sein amerikanischer Traum mit Füßen getreten wird.
Das Thema würde der Academy traditionellerweise gefallen, aber Brody Corbets zehnfach nominiertes Drama geriet wegen seiner Nutzung von Künstlicher Intelligenz, um das Ungarisch der Darsteller zu optimieren, in die Kritik, und KI ist ein Schlagwort, das vielen in der Branche Angst einjagt.
Viel Aufregung um „Emilia Pérez“-Star
KI wurde auch eingesetzt, um Karla Sofía Gascón Gesangsstimme in „Emilia Pérez“ zu verbessern. Das ist allerdings das geringste Problem von Jacques Audiards Musical über die Entwicklung eines mexikanischen Drogenbarons zu einer „Baronesse“. Noch nie hat ein nicht-englischsprachiger Film 13 Oscar-Nominierungen eingeheimst – darunter eine für Gascón, die erste offen transsexuelle Schauspielerin, die für den Oscar nominiert ist.
Aber ihre Chancen auf einen Sieg sind wegen ihrer islamophoben und rassistischen Tweets aus ihrer Vergangenheit verpufft und mit ihnen wahrscheinlich auch die Chance auf den Hauptpreis. Obendrein gibt es immer noch Mitglieder in der Academy, die Netflix gegenüber Ressentiments hegen. Es wäre der erste Sieg für den Streamer, der hinter der Produktion steht, in der Königskategorie.
Der christlichste Kandidat und die Horror-Wahl
Michael Schulman vom US-Magazin „New Yorker“ nannte das Oscar-Rennen „so chaotisch wie ,Konklave‘“. Das achtfach nominierte Drama von Edward Berger dreht sich um die Wahl des nächsten Papstes und beleuchtet die schmutzigen Intrigen der Kardinäle, die sich um den Heiligen Stuhl bewerben.
Wie im Film droht auch im heurigen Oscar-Rennen eine Abfolge kleinerer Skandale einen Anwärter für den besten Film nach dem anderen aus der Bahn zu werfen, „was zu einem der chaotischsten Wahlkampfsaisons der jüngeren Geschichte“ geführt habe, schreibt Schulman.
Bergers Politthriller mit Ralph Fiennes wäre in diesem Jahr die solide, sichere und politisch saubere Wahl. Es wäre auch eine Wiedergutmachung für den österreichisch-schweizerischen Regisseur von „Im Westen nichts Neues“, der im Jahr 2023 gegen „Everything Everywhere all at Once“ verlor. Er ist heuer allerdings nicht für die beste Regie nominiert, was seine Chancen schmälert.
Unter den zehn Nominierten ist in diesem Jahr nur ein Film dabei, bei dem eine Frau Regie geführt hat. Die Rede ist von „The Substance“ der Französin Coralie Fargeat („Revenge“), die Demi Moore ihr Comeback bescherte.
Die Schauspielerin wird wohl den Goldjungen für ihre Leistung abholen, aber in der Königssparte ist es unwahrscheinlich, dass der fünffach nominierte Horror-Body-Schocker gewinnt. Die Academy ist dem Genre normalerweise nicht wohlgesonnen. Seit „Das Schweigen der Lämmer“ hat kein Horrorfilm mehr den Oscar für den besten Film gewonnen.
Hexen, Sandwürmer und Dylan
Eine der größten Überraschungen waren mitunter die drei Nominierungen für das brasilianische Drama „Für immer hier“ mit der mit dem Golden Globe ausgezeichneten Fernanda Torres (ist auch nominiert). Walter Salles‘ („Central Station“) Film über eine Familie, die sich gegen eine Militärdiktatur stellt, wird wahrscheinlich nicht gewinnen, aber jetzt, wo „Emilia Pérez“ in Ungnade gefallen ist, hat er sehr gute Chancen in der Sparte Bester internationaler Film.
Da „Dune: Part Two“ keine Nominierungen (insgesamt fünf) in anderen wichtigen Kategorien erhielt, wird Denis Villeneuves Sci-Fi-Franchise wahrscheinlich bis zu seiner Rückkehr nach Arrakis warten müssen, um konkurrenzfähig zu sein, wenn die Academy vielleicht beschließt, die gesamte Trilogie zu würdigen.
Das Gleiche gilt für Jon M. Chus Fantasymusical „Wicked“, ein zehnfach nominierter Kassenschlager, der möglicherweise bessere Chancen auf die Krone hat, wenn die Fortsetzung „Wicked: For Good“ Ende dieses Jahres erscheint. Aber auch hier ist nichts in Stein gemeißelt – sollte sich die Academy für das „Popular Vote“ entscheiden.
Und obwohl Musikbiografien zu den beliebtesten Subgenres der Oscar-Wähler zählen, gewinnen sie in der Regel nicht den Goldjungen für den besten Film. Der Letzte, dem dies vor 40 Jahren gelang, war „Amadeus“ von Miloš Forman. Dementsprechend gering sind die Chancen für James Mangolds achtfach nominierten Bob Dylan-Film „Like A Complete Unknown“ in dieser Disziplin.
„Nickel Boys“ wirkt dieses Jahr mit zwei Nominierungen wie ein Außenseiter, was jedoch nichts über die Qualität des Films unter der Regie von RaMell Ross aussagt. Das Drama zeichnet den Weg eines schwarzen Teenagers in den 1960er-Jahren nach, der zu Unrecht in eine von Gewalt und Missbrauch geprägte Besserungsanstalt geschickt wird. Einen heimischen Kinostart gibt es noch nicht.
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