Nach Schätzungen von Aktivisten sind bei schweren Kämpfen in der syrischen Küstenprovinz Latakia in den vergangenen Tagen mehr als 1000 Menschen getötet worden, davon rund 750 Zivilisten. Die neue Führung in Damaskus räumte am Sonntag, vereinzelte Verstöße bei der Niederschlagung eines „aufkeimenden Aufstands“ ein. Dafür seien aber „unkontrollierte Massen von Dorfbewohnern und Kämpfer“ verantwortlich, die die Regierungstruppen „unterstützen wollten“.
Der syrische Übergangspräsident Ahmed al-Sharaa versprach, dass all jene, die Straftaten begangen hatten, hart bestraft würden. Gleichzeitig rief der frühere Anführer des islamistischen Rebellenbündnisses Hayat Tahrir al-Sham (HTS) die Bevölkerung angesichts des Konfliktes zwischen seinen Sicherheitskräften und alawitschen Kämpfern zur nationalen Einheit auf. Die aktuelle Entwicklung bewege sich im Rahmen der „erwartbaren Herausforderungen“, betonte Sharaa in einem am Sonntag von arabischen Medien verbreiteten Video. „Wir müssen die nationale Einheit und den inneren Frieden bewahren“, forderte der Interimspräsident und gab sich überzeugt: „Wir können zusammenleben.“
Es seien die schwersten Gewalttaten seit Jahren, sagte der Leiter der in Großbritannien ansässigen Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte, Rami Abdulrahman, am Samstag. Unter den Toten seien Frauen und Kinder der alawitischen Minderheit, der auch der gestürzte Diktator Bashar al-Assad angehört.
Das Blutvergießen hatte am Donnerstag begonnen. Nach Darstellung der neuen Machthaber überfielen bewaffnete Anhänger der gestürzten Assad-Regierung Sicherheitskräfte in der Nähe der Küstenstadt Jableh in der Provinz Latakia. Die Angriffe schienen koordiniert zu sein, schrieb das Institut für Kriegsstudien (ISW) in Washington. Am Freitag verlegte die islamistische Übergangsregierung deswegen größere Truppenkontingente in die Region. Seitens der Regierungstruppen seien Artilleriegeschütze, Panzer und Raketenwerfer eingesetzt worden, hieß es.
Überlebender: „Es war völliger Horror“
Überlebende in den am schwersten betroffenen Gebieten schilderten nach der Offensive der Regierungstruppen und ihrer Verbündeten unfassbare Gräuel. So hätten Kämpfer wahllos auf Zivilisten geschossen und dabei gelacht. Wohnhäuser von den Toten seien geplündert und anschließend angezündet worden. „Es war völliger Horror. Sie haben niemanden verschont“, erinnerte sich ein Bewohner der Küstenstadt Baniyas im Gespräche mit dem britischen Sender Sky News. Dutzende Alawiten suchten Zuflucht auf der russischen Armeebasis Hmeimim (siehe Posting oben).
Große Angst in der alawitischen Minderheit
Vor allem unter den Alawiten seien Angst und Schrecken weit verbreitet, sagte ein Bewohner. „Es gibt viele Übergriffe und Tötungen aufgrund der Religionszugehörigkeit. Es kommt auch zu Diebstählen“, schilderte er. Unter den Todesopfern seien auch Frauen und Kinder, berichtete die Beobachtungsstelle für Menschenrechte. Sie sprach von Massakern in 29 Orten der Gouvernements Latakia, Tartus, Hama und Homs und warf Kämpfern der islamistischen Übergangsregierung Kriegsverbrechen vor.
Die Anhänger des gestürzten Assad würden versuchen, diese Morde zu nutzen, um Minderheitengruppen zu mobilisieren, heißt es in einem Bericht des ISW. Vor allem unter den Alawiten wachse das Gefühl, dass die Interimsregierung der neuen islamistischen Machthaber sie unterdrückt und ausgrenzt. Das Assad-Regime war säkular gewesen. Für Übergangspräsident Sharaa sind die Auseinandersetzungen die erste große Prüfung.
Der Syrien-Experte Karam Shaar schrieb auf X (siehe Posting oben), die Regierung habe durch die Gewalt an den Alawiten viele Fortschritte der vergangenen Monate zurückgedreht gemacht. Forderungen der Übergangsregierung etwa an die EU und die USA, Sanktionen umgehend aufzuheben, seien damit weniger glaubhaft, schrieb Shaar. Der Auswärtige Dienst der EU (EAD) teilte dagegen mit, „pro-Assad-Elemente“ hätten laut Berichten in syrischen Küstengebieten Angriffe auf Kräfte der Übergangsregierung verübt. Die Stellungnahme wurde im Internet teils vehement kritisiert. Der niederländische Europaabgeordnete Sander Smit von der christdemokratischen Europäischen Volkspartei (EVP) bezeichnete sie als eine „irreführende Aussage“. Die EU rief auch dazu auf, dass die Zivilbevölkerung unter allen Umständen geschützt werden müsse.
Israel kritisiert Legitimation der Islamisten durch die EU
Das deutsche Außenministerium appellierte am Sonntag an die Übergangsregierung in Damaskus, weitere Übergriffe zu verhindern. „Berichte über die Ermordung von Zivilisten und Gefangenen sind schockierend. Die Übergangsregierung steht in der Verantwortung, weitere Übergriffe zu verhindern, die Vorfälle aufzuklären und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen“, erklärte eine Sprecherin des Auswärtigen Amts in Berlin. Man fordere „alle Seiten nachdrücklich zu einem Ende der Gewalt auf“, erklärte die Sprecherin weiter.
Israels Außenminister Gideon Saar forderte die westlichen Staaten angesichts der blutigen Ereignisse auf, die islamistische Übergangsregierung in Damaskus nicht zu legitimieren. Interimspräsident Sharaa und seine Männer „waren Dschihadisten und sind es geblieben, auch wenn sie jetzt Anzüge tragen“, sagte Saar der deutschen „Bild“-Zeitung (Sonntag). Er kritisierte, dass Vertreter Europas zu Sharaa „geströmt“ seien, um ihm die Hand zu schütteln.
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