Vor elf Jahren spielten sie noch im Wiener Gürtellokal B72 – Sonntagabend verkauften die Twenty One Pilots zum bereits dritten Mal die Wiener Stadthalle aus. In puncto audiovisuellem Bemühen und hoher Energie kann dem Duo Tyler Joseph und Josh Dun derzeit keine Band das Wasser reichen. So war auch der Wien-Gig eine pompöse Pop-Messe, bei der nur der dumpfe Sound den Gesamteindruck verwässerte.
Wenn die ganz großen Hallen zu füllen sind, dann ist das immer noch oft die Aufgabe der alten Hasen. In der Wiener Stadthalle obliegt das etwa Künstlern wie Sir Rod Stewart, Lenny Kravitz, Rainhard Fendrich, Ludovico Einaudi oder Carlos Santana – zusammengerechnet ungefähr so alt wie die Zeitrechnung nach Christi Geburt. Doch seit Jahren scharren die Jungen in den Startlöchern - Tate McRae, Shirin David oder Billie Eilish sind das in diesem Frühling. Im männlichen Segment schaut es dünner aus. Da darf man einmal mehr auf die längst etablierten Twenty One Pilots setzen. Ihre erste Stadthallen-Show seit sechs Jahren füllt wieder die komplette Halle bis auf den letzten Rang. Die Beständigkeit im oberen Segment des Pop- und Rock-Business zeigt eindeutig, dass Tyler Joseph und Josh Dun, gerade mal mitten in ihren 30ern stehend, längst zu den etablierten Spitzenmusikern zählen. Das liegt nicht zuletzt an der musikalischen Vielseitigkeit. Viel Rock, ordentlich Pop, noch mehr Indie, eine kräftige Prise Rap und Hip-Hop, dazu darf es auch mal in den brachialen Hardcore gehen. Man musiziert heute so, wie man Musik rezipiert – möglichst breit und allumfassend.
Eine andere Liga
Dazu liefert das Freundesduo aus Columbus in Ohio auch auf der Bühne feurige Performances, die man sich bei so manch hüftsteif agierenden Kollegen aus der Branche verzweifelt wünschen würde. An der Setlist lässt sich ob der durchgeregelten Konzeption zwar nicht rütteln, man kann aber auch abseits von abwechselnden Songschlenkern jeden Abend zu einem besonderen Höhepunkt verhelfen. Twenty One Pilots live sind mehr ein immersives Multimediaerlebnis, denn eine bloße Konzertveranstaltung. Licht, Videoshow und Musik gehen eine besonders stabile Co-Union ein, dazu gibt es immer wieder an Magie grenzende Tricks, die das enthusiastische Publikum zum Staunen bringen. Natürlich kann man sich auf YouTube und Vimeo die Videos der vergangenen Liveshows zu Gemüte führen, leibhaftig erlebt ist das explosive Gebaren des Duos samt eingespielter Backing-Tracks-Unterstützung aber noch einmal eine ganz andere Liga. Das zeigt sich schon zu Beginn, wo der gesichtsmaskierte Frontmann Joseph auf die Bühne geschossen wird, während Dun mit präziser Wucht den Sonntagsblues aus den Knochen der Fans hämmert.
Wobei – von Blues kann keine Rede sein. Die treue „Skeleton Clique“, wie sich die Fanbase aufgrund der Bandfokussierung auf Skelette und Aliens nennt, harrte schon viele Stunden vor dem Konzert vor der Stadthalle aus, um sich in trauter Gemeinschaft auf den Abend mit Dosenbier, gegenseitigem Schminken oder Erfahrungsberichten vergangener Konzerte vorzubereiten. Kurz bevor der Song „The Judge“ startet, wird diesen Fans auch ansprechend gehuldigt. Das Social-Media-Team der Twenty One Pilots war vor dem Gig unterwegs und hat humorige Impressionen und kurze Interviews eingeholt – das nennt man Dienst am Anhänger. Überhaupt machen es Joseph und Dun ganz anders als andere Acts, die zunehmend Smartphones aus den Konzerthallen verbannen wollen. Die Amerikaner integrieren nicht nur die Fans, sondern auch ihre technischen Hilfsmittel. So dient die atemberaubende Lichtshow perfekt für Videos zum Teilen auf den diversen Plattformen. Während des Hits „Mulberry Street“ teilt Joseph die Fanschar gar in drei Lager und lässt zum Refrain abwechselnd die Handylichter hochgehen – ein Spektakel.
David Copperfields des Musikbusiness
Den Terminus Spektakel kann man ohnehin für die ganze Show des Duos heranziehen. Mit jeder einzelnen Tour hat man die bisherigen Highlights noch einmal nach oben geschraubt – das ist auch hier der Fall. Pompöse Verstärkertürme, das ständige Abschießen von Raketen, eine Licht- und Lasershow zum Niederknien und eine Feuerwand beim Song „Navigating“, die selbst der Thrash-Metal-Legende Slayer zur Ehre gereichen würde. Als internationaler Top-Act können die Twenty One Pilots längst auch budgetär aus dem Vollen schöpfen. Ihre Österreich-Live-Erfolgsgeschichte begann übrigens 2014 im Wiener Gürtellokal B72 – dort würde man von der aktuellen Produktion wahrscheinlich nicht einmal mehr das Drumset auf die Bühne hieven können. Und dann auch noch das Spiel mit der Magie. Als beim kultigen Top-Song „Car Radio“ Joseph im Bühnenboden verschwindet und einen Wimpernschlag später auf einem Oberrang der Stadthalle auftaucht, um sich zu demaskieren, leuchten die Fragezeichen in den Gesichtern der Fans hell auf. Pure Zauberei – und ein weiterer Beweis, wie sehr das Duo den großen Auftritt abseits der bloßen Musik liebt.
Den beiden gelingt es aber vor allem, die Abwechslung groß zu schreiben. In einem Moment kracht und knallt es aus allen Rohren und die Feuerfontänen scheinen die Stadthallen-Decke zu versengen, dann wiederum wird zu zarten Ukulele-Klängen gesungen und sanfte Balladen schmiegen sich in die Gehörgänge. Ein klanglicher Parforceritt, der aber nicht angestrengt, sondern spielerisch wirkt. Songs des im letzten Frühling veröffentlichten Albums „Clancy“ wie etwa „Lavish“, „Midwest Indigo“ oder „Vignette“ vermischen sich mit Klassikern aus früheren Werken – und derer gibt es mittlerweile zuhauf zu bestaunen. So wird etwa „Shy Away“ mit extensiven Drums zu einer Quasi-80er-Gedenkhymne, das brachiale „Heavydirtysoul“ drückt den Frontmann vor lauter Anstrengung für kurze Zeit auf den Bühnenboden und „My Blood“ wird inbrünstig aus allen Fankehlen mitgesungen. Dazwischen spielen sie zwei Songs auf gegenüber aufgebauten B-Stages in der Hallenmitte. Auf dem Weg dorthin klatscht Joseph in die Hände und macht ein Fanselfie, Drummer Dun wandert im Hallen-Eck mit einer Fackel in der Hand auf die Hauptbühne zurück.
Großes Schauspiel, dumpfer Sound
Das Schauspiel hat natürlich einen dramaturgischen Bogen. Die namensgebende Figur „Clancy“ des letzten Studioalbums zieht sich seit Jahren durch das kreative Schaffen des Duos, das sich damit quasi eine konzeptionelle Reise für das eigene Projekt überlegt hat. Dementsprechend dienen Kostümierungen wie Masken, lange Mäntel oder schlichte weiße T-Shirts einem höheren Sinn, dem die Fans religiös nacheifern. Im kommerzielleren Segment kennt man so eine „Ära-Erzählung“ von Superstar Taylor Swift, aber auch bei den Twenty One Pilots lässt sich mühelos in eine Welt eintauchen, in der man durch diverse Querverstrebungen das große Ganze herausrechnen kann. Stagediving, Konfettiregen und viel Geballer begleiten durch das Schlussdrittel, das mit den alten Top-Hits „Jumpsuit“ und „Stressed Out“ noch einmal die letzten Energien vor den Osterferien herauskratzt. Bei „Ride“ darf dann auch ein junger Bursch mit Joseph singen. Twenty One Pilots liefern mittlerweile alles, was eine internationale Champions-League-Popshow ausmacht - nur der Sound spielte in Wien mal wieder nicht mit und verärgerte durch seine Dumpfheit.
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