Mit einem Countryalbum hätte man weder bei Boygenius-Drittel Julien Baker, noch bei Indie-Rock-Koryphäe Torres gerechnet. Die beiden setzten sich aber zusammen, legten Herz und Seele offen auf den Tisch und überraschen mit einem der intimsten und schönsten Freundschaftsalben dieses Jahres. Unbedingte Hörempfehlung!
Bei manchen Zusammenschlüssen weiß man erst nach dem Hören, dass man eigentlich schon immer darauf gewartet hat. In diese durchaus illustre Reihe an Künstlerinnen und Künstlern, die aus ihrem üblichen Bereich ausscheren und dabei positiv überraschen, gehört nun auch das Duo Julien Baker & Torres. Baker, lesbisch aufgewachsen im ruralen und stockkonservativen Germantown, Tennessee, hat sich zuerst als Solokünstlerin und dann als Drittel der immens gehypten Boygenius verdient gemacht. Mit letzterer Band heimste sie sogar drei Grammys ein, vor gut einem Jahr ging das Trio aber auf eine unbestimmte Auszeit. Baker und Phoebe Bridgers scheinen mehr Lust auf eine gemeinsame Zukunft zu haben als Lucy Dacus, aber in einem Trio müssen eben alle drei Komponenten mitspielen, damit etwas weitergeht. Mackenzie Scott aka Torres hat den amerikanischen Indie-Rock der 2010er- und 2020er-Jahre essenziell mitgeprägt und mit versatilem, spannendem Songwriting eine beispiellose Karriere in die Welt gesetzt.
Ein ganz und gar ungewöhnliches Projekt
Dass die beiden Koryphäen aus dem gitarrenlastigen Segment jetzt zu einem gemeinsamen Country-Album gefunden haben, ist skurril und logisch zugleich. Skurril, weil sich vor allem Baker jahrelang gegen dieses Genre sperrte und nicht mit dem Traditionalismus ihrer direkten Heimat assoziiert werden wollte. Logisch, weil sich in der Welt des hemdsärmeligen Country-Klangs die mit Abstand ehrlichsten und besten Geschichten erzählen lassen. Die ersten Grundzüge zu dieser Kooperation entstanden schon 2016, als die beiden eine gemeinsame Show spielten und die gegenseitigen Sympathien endgültig abgecheckt waren. Torres blieb hartnäckig, telefonierte Baker an und machte Nägel mit Köpfen. Gerade der Zugang Bakers war für Torres und viele andere in ihrem gemeinschaftlichen Umkreis überraschend, zumal sich die 29-Jährige eigentlich eher in härtere Klangsegmente flüchten wollte, sie Baker vor einiger Zeit auch der „Krone“ erzählte.
Vor allem die kompromisslose Direktheit ihrer Jugendliebe Hardcore hat es ihr in den letzten Jahren wieder vermehrt angetan. „Am Hardcore habe ich immer geliebt, dass er aus reinem Vorsatz entsteht, sehr dominant und aggressiv klingt, aber immer auch eine Botschaft mitliefert. Eine Hardcore-Show ist wie ein Showcase der Emotionen. Im Sound gibt es Panik, es gibt Chaos, es gibt Wut und Feuer. Es ist eine wunderbare Form, um all die Wut und Ungerechtigkeiten rauszuschreien und sie richtig zu kanalisieren. Hardcorebands zerstören die unsichtbare Linie zwischen dem Künstler und den Fans. Zwischen den teilnehmenden und den beobachtenden Fans. Wenn ich sehe, wie die Kids im Moshpit ihren ganzen Frust loswerden, macht mich das noch immer glücklich. Insofern kann ich mir gut vorstellen, in absehbarer Zeit ein Hardcore-Projekt zu gründen.“ Trotz des temporären Aus von Boygenius und ihrer bereits drei Jahre langen Solopause hat sich dahingehend noch wenig getan, dafür gibt es Baker mit Torres nun eben in melodischeren Gefilden zu hören.
Leichtfüßig und ungezwungen
„Send A Prayer My Way“ heißt das zwölf Songs starke Kapitel gemeinschaftlicher Arbeit und ist in erster Linie mehr nicht, als es ist. Es hat nichts mit US-Hurra-Patriotismus am Hut, fällt textlich in keine republikanische Klischeefalle und hat – was wohl manche wirklich überrascht – auch keine Anflüge von aktueller Polit- oder Gesellschaftskritik, wie man sie von Baker und Torres angesichts der aktuellen Lage Amerikas vielleicht hätten erwarten dürfen. Das Album ist vielmehr eine Zusammenfassung intrinsisch vorhandener Emotionen. Persönlicher Gedanken, Sorgen und Ängste und gemeinsamer Erlebnisse, die sich dank einer fein austarierten Produktion und dem zarten Stimmtimbre des Duos zu einem klanglichen Schmetterling entwickelt, der sich authentisch aus seinem Kokon entpuppt und nicht den Fehler macht, das filigrane Liedgut im Übermut überproduzieren zu lassen. Die verästelte Schönheit von Songs wie der bereits ausgekoppelten Single „Sugar In The Tank“ oder „Bottom Of A Bottle“ begeistert, ohne nach Begeisterung zu heischen.
Manche Songs berichten vom Aufwachsen als queere Personen in den amerikanischen Südstaaten, andere drehen diverse Traditionen in die Gegenwart, wiederum andere huldigen einer emotionalen Verwurzelung mit diversen Dingen und lassen sich manchmal bewusst in Cowboys-Klischeewelten drücken, wie es etwas bei „Off The Wagon“ der Fall ist. Der mehrstimmige Harmoniegesang paart sich wunderbar mit den unterschiedlichen Instrumenten und sanfte Songs wie das fast schon kitschig pittoreske „No Desert Flower“ entfachen eine untrügliche Sehnsucht nach einem weiten und unberührten Amerika, in dem man sich noch bewusst um die kleinen Dinge des Lebens kümmerte und nicht mittels Radikalkur die gesamte Welt auf den Kopf stellen wollte. Sehnsüchte, Zusammenhalt und Achtsamkeit sind wichtige Begriffe, mit denen Baker und Torres ihre Form eines zeitgemäßen Country würzen und ihn damit vom Mief des Altertümlichen entstauben.
Musik aus purer Freundschaft
Mit diesem Produkt ist Baker ihrem eigentlich gen Hardcore gerichteten Ziel aber ohnehin näher, als so mancher glauben würde. „Musik ist für mich die universellste Sache der Welt. Das Schöne an ihr ist, dass sie jeder Mensch machen kann und man nicht Götzenbilder auf einem Podest anbeten muss, um selbst aktiv zu werden. Ich nehme mein Handwerk sehr ernst und liebe es, die Gitarre zu spielen. Die Leute kommen zu deinen Konzerten und zahlen viel Geld dafür, einen schönen Abend zu haben. Wie vermessen wäre es denn, all das nicht ernst zu nehmen und stattdessen den Rockstar raushängen zu lassen.“ Baker und Torres holen mit „Send A Prayer My Way“ nicht nur das Genre Country aus seinem angestaubten Bett des Ewiggestrigen, sie musizieren und interagieren als gute Freunde, denen es in erster Linie um Gemeinschaft und die Kunst geht und nicht um Erfolge und hohe Streamingzahlen. Übrigens: Mit „Sylvia“ gibt es eine Hymne an den gleichnamige, aus dem Tierheim geholte Pflegehund von Torres. Kann Musik denn noch schöner sein?
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