Rund 10.000 versammelten die US-amerikanischen Indie-Folker The Lumineers Mittwochabend bei ihrem bislang mit Abstand größten Konzert in Österreich. Zum Auftakt der „Automatic“-Europa-Tour zeigten sich Frontmann Wesley Schultz gut eingespielt, aber nicht fehlerfrei. Die mehr als zweistündige Show kann aber als absoluter Dienst am Fan verbucht werden.
Die große Magie der frühen Tage mag vielleicht etwas verpufft sein, exakt 20 Jahre nachdem die beiden Jugendfreunde Welsey Schultz und Jeremiah Fraites ihre Band The Lumineers ins Leben gerufen haben, versammeln sie bei ihren Konzerten aber so viel Publikum wie nie zuvor. Das erkennt Frontmann Schultz in der Wiener Stadthalle recht schnell, auch wenn er sich bei der Milchmädchenrechnung mit der Behauptung, der Ansturm hätte sich seit dem letzten Mal verdoppelt, leicht vergaloppiert. Im Vergleich zum Gasometer-Stelldichein 2019 sind die rund 10.000 Anwesenden sogar eine Verdreifachung der alten Marke. Nicht schlecht für die im gemächlichen Folk-Rock mäandernde Truppe, die vor zwei Monaten mit „Automatic“ zwar ein durchaus starkes und variantenreiches fünftes Studioalbum veröffentlichte, kommerziell aber schon seit einigen Jahren immer wieder Schiffbruch mit ihren Produkten erleidet.
Bodenständig und traditionell
Davon ist man im heute so wichtigen Live-Segment aber weit entfernt. Die stilistisch gemächliche Ausrichtung der Lumineers kann zudem als zeitlos bezeichnet werden. In ihrem eigenen Klangkosmos haben die zwei Songwriter zwar des Öfteren versucht, die Grenzen auszuloten und zu erweitern, aber im Großen und Ganzen hat sich der Grundsound der in Denver, Colorado beheimateten Truppe schon vor geraumer Zeit eingefahren. Überraschungsarm ans Werk zu gehen ist dabei nicht zwingend ein Nachteil und das beständig mehr werdende Publikum scheint die (qualitativ sehr hohe) Konstanz der Lieder der Lumineers durchaus zu schätzen – da muss man nicht alle drei bis vier Jahre mit einer neuen großen Innovation den Markt durcheinanderrütteln. Davor sind auch die Protagonisten viel zu bodenständig, die sich zum Tourauftakt mit praktisch allen Klischee-Merkmalen der Szene präsentieren. Fraites trägt Fedora und Hosenträger, bei Schultz wuchert der Holzfäller-Waldschratenbart und der Blick ist melancholisch, Pianist Stelth Ulvang verbindet sich barfuß mit Mutter Holz – in diesem Fall der viel gebrauchte Stadthallen-Bühnenboden.
Apropos Tourauftakt – dem Wiener Publikum wird tatsächlich die Premiere zuteil. Zwei Tage lang hat sich die auf ein Septett ausgewachsene Truppe an diesem Ort auf den heutigen Abend und die anstehenden Termine vorbereitet, insofern ist die musikalische Verbeugung mit einem kurz angerissenen „Vienna“ des legendären Billy Joel durchaus angebracht und verdient. Ohne den Lumineers ihre Qualitäten absprechen zu wollen, aber das ist schon früh im Set ein echtes Highlight, das markant in den Gehörgängen haften bleibt. Diese Ohrwurmqualität weisen auch die Songs der Amerikaner auf, allerdings nur selten in dieser durchdringenden Prägnanz. Mit „Ho Hey“ oder „Cleopatra“ lassen sich schon memorable Nummern herausfiltern, ganz so leicht fällt es den Lumineers aber nicht, den Spannungsbogen abendfüllend aufrechtzuerhalten. Dafür fehlt es gerade neueren Songs wie „Same Old Song“, „Asshole“ oder „Plasticine“ an der nötigen Dringlichkeit.
Volksnah und sympathisch
Beeindruckend ist dafür das opulente Bühnenbild. Eine mächtige Videowall leitet über in eine als Pfeilform mit langem Steg weit in die Halle eingerichtete Bühne samt Podest für die Instrumentalisten, die dazu von einer Phalanx an warmen Lichtstrahlen begleitet werden. Die Lumineers machen Musik für Cowboys, die gerne kuscheln und kein Problem damit haben, ihre Tränen in schwierigen Zeiten mit der Öffentlichkeit zu teilen. In gleich drei Konzertblöcken wandert die zuweilen an eine hippieeske Kelly-Family-Außendependance erinnernde Truppe im Kollektiv an die Bühnenpfeilspitze, um noch mehr Nahbarkeit als die Musik ohnehin schon ausstrahlt, zu vermitteln. Schultz gibt sich damit noch nicht zufrieden und wandert während des akustisch gespielten „Brightside“ singend durch die vorderen Reihen. Ein marketingtechnisch immer kluger Coup, den je volksnaher man sich gibt, umso treuer reagiert der Fan darauf.
Mit märchenhaften Pippi-Langstrumpf-Zöpfen und einem weinroten Samtanzug bezirzt Schultz als Rädelsführer des musikalischen Wanderzirkus die Menge früh. Seine Stimme muss sich beim allerersten Konzert ein paar Nummern eingrooven, danach schwingt er sich aber behände in lichte Höhen und ist nicht mehr aus dem Tritt zu bringen. Besonders deutlich sticht das hervor, wenn, wie beim Song „Big Parade“, alle anderen kurz ans Mikro dürfen, um die vertonte Kollektivfreude breitenwirksam zu vermitteln. Besonders schlimm ist dabei das Gekrächze der adretten Geigerin Laura Jacobson, das sich definitiv nicht für das zentrale Rampenlicht an einem solchen Abend eignet. Was technisch manchmal nicht ganz ausreichen mag, klappt dafür in der geschlossenen Gemeinschaft. Das Gespann ist spürbar eingespielt, motiviert und reagiert ideal aufeinander. Immer wieder werden kleine Botschaften versendet, Instrumente hin- und hergeworfen oder beim Vorbeigehen aneinander temporäre Kontakte hergestellt.
Mut und klangliche Ausfransung
Die eruptiveren Momente wie in „Gloria“ halten sich bis zum Ende der mehr als zweistündigen Show in Grenzen, was einer derart langen Vorstellung natürlich etwas an Drive nimmt. Zu den größeren Highlights zählen der Konfettiregen während „Sleep On The Floor“, eine intime, nur zu zweit und mithilfe von Klavierklängen erklingende Version des aktuellen Albumtiteltracks „Automatic“, der etwas schnell runtergespielte Top-Hit „Ophelia“ und eine Cover-Version des eher selten gespielten Tom-Petty-Song „Walls“. Jener Petty ist für Frontmann Schultz so etwas wie der größte Säulenheilige, der auf seinem persönlichen Entwicklungsweg vorhanden war. Vom doch mauen Feedback des Wiener Publikums auf die Ankündigung des Covers war aber nicht nur er überrascht. Die Lumineers sind erwachsen geworden und scheuen die große Geste noch weniger als früher. Hätten die Songs aber noch etwas mehr Ecken und Kanten, könnte man sich längst selbst ein Denkmal setzen. So bleibt der mit Americana-Zitaten versetzte Indie-Folk-Rock großspurig, aber leidlich überraschungsarm – doch zur absoluten Champions League gehören auch Mut und klangliche Ausfransung.
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