Der jahrzehntelange Konflikt zwischen den Atommächten Indien und Pakistan steht erneut an einem gefährlichen Wendepunkt. Nach einem tödlichen Anschlag im nordindischen Teil Kaschmirs, bei dem am Dienstag mindestens 27 Menschen ums Leben kamen, mehren sich Anzeichen für eine militärische Eskalation in der umstrittenen Himalaya-Region.
Die indische Regierung machte unmittelbar nach dem Angriff Pakistan verantwortlich und kündigte „entschlossene Reaktionen“ an. Sicherheitskreise in Neu-Delhi halten eine Anti-Terror-Operation der indischen Armee in Kaschmir für „wahrscheinlich“. Laut Adrian Haack, Leiter der Konrad-Adenauer-Stiftung in Delhi, sei eine begrenzte militärische Auseinandersetzung „realistischer als ein umfassender Krieg – aber auch dieser kann nicht ausgeschlossen werden“.
Am Freitag bestätigte ein Sprecher der pakistanischen Regionalregierung, dass es in der Nacht entlang der sogenannten Kontrolllinie zu einem Schusswechsel zwischen pakistanischen und indischen Soldaten gekommen sei. Berichte über Verletzte oder Tote lagen zunächst nicht vor. Die UNO reagierten mit einem Appell zur „maximalen Zurückhaltung“. Auch in der Nacht auf Samstag gab es Meldungen über Schusswechsel. Von mehreren pakistanischen Armeeposten seien in der Nacht zu Samstag „unprovoziert“ Schüsse über die durch Kaschmir verlaufende Kontrolllinie abgegeben worden, erklärte die indische Armee. Sie habe darauf „angemessen“ reagiert und zurückgeschossen.
Verletzte wurden demnach nicht gemeldet. Bei dem Schusswechsel kamen nach indischen Angaben „Kleinwaffen“, also etwa Gewehre, zum Einsatz. Pakistan bestätigte die Angaben nicht.
Ausgangspunkt der erneuten Spannungen ist ein Anschlag auf hinduistische Pilger im Urlaubsort Pahalgam. Unbekannte Angreifer eröffneten am Dienstagabend das Feuer auf einen Bus, der Pilger auf dem Weg zur heiligen Höhle von Amarnath transportierte. 26 Inder und ein Nepalese kamen ums Leben. Zu dem Anschlag bekannte sich zunächst keine Gruppe. Für Hinweise wurde ein Kopfgeld in Höhe von zwei Millionen Rupien (rund 22.000 Euro) ausgesetzt.
Pahalgam gilt als touristisches Zentrum der Region und wird häufig als „Schweiz Asiens“ bezeichnet. Die Region war in den vergangenen Jahren Ziel zahlreicher staatlicher Tourismusinitiativen. Auch deswegen war der Anschlag ein Schock – nicht nur für Angehörige, sondern auch für die wirtschaftlich von der Reisebranche abhängige Region. „Pahalgam ist das Zugpferd der Tourismusbranche Kaschmirs“, sagt Haack und vergleicht es mit dem Zillertal in Österreich. In der Bevölkerung herrscht Fassungslosigkeit – viele Inder fühlen sich an die Anschlagsserie von Mumbai im Jahr 2008 erinnert.
Indien reagierte mit weitreichenden diplomatischen und politischen Maßnahmen: Die Ausweisung aller pakistanischen Staatsangehörigen wurde bis kommenden Dienstag angeordnet. Medienberichten zufolge sind davon mehrere Tausend Personen betroffen, die sich mit temporären Visa – etwa für religiöse Pilgerreisen oder Medienarbeit – in Indien aufhalten. Eine doppelte Staatsbürgerschaft existiert zwischen den beiden Ländern nicht. Das indische Außenministerium kündigte außerdem die Schließung des wichtigsten gemeinsamen Grenzübergangs und die Aussetzung eines Wasserabkommens an, das die Nutzung mehrerer Flüsse im Himalaya regelt.
Pakistan reagierte prompt: Indische Diplomaten wurden zu Persona non grata erklärt und mussten das Land umgehend verlassen. Islamabad kündigte zudem an, den Luftraum für indische Fluglinien zu sperren und den Handel mit Indien einzustellen. Besonders brisant ist eine Aussage des pakistanischen Außenministeriums, wonach jede Einschränkung der Wasserzufuhr durch Indien als „Kriegsakt“ gewertet werde.
Der Kaschmirkonflikt reicht zurück bis zur Teilung Britisch-Indiens im Jahr 1947. Seither beanspruchen sowohl Indien als auch Pakistan die gesamte Region für sich, kontrollieren aber jeweils nur Teile davon. Zwei Kriege wurden bereits um das Gebiet geführt, ein dritter konnte 1999 nur knapp verhindert werden. In der indisch kontrollierten Region ist seit 1989 eine halbe Million Soldaten stationiert. Dort kommt es regelmäßig zu Gefechten mit militanten Gruppen, die von Indien als Terroristen und von Pakistan teilweise als Freiheitskämpfer betrachtet werden.
Der aktuelle Anschlag reiht sich ein in eine Serie von gewaltsamen Zwischenfällen, deren Intensität in den vergangenen Jahren wieder zugenommen hat. Im Juni 2024 waren bei einem ähnlichen Angriff in Reasi bereits mehrere Pilger ums Leben gekommen. Damals machte Indien ebenfalls pakistanisch gestützte Gruppen verantwortlich. Der Angriff von Pahalgam jedoch sprengt den bisherigen Rahmen: Es ist der schwerste Anschlag auf Zivilisten in der Region seit mehr als zwei Jahrzehnten.
Internationale Beobachter befürchten, dass der Anschlag zu einer neuen Spirale der Gewalt führen könnte. „Dieser Angriff wird die Beziehungen in die dunklen Tage zurückversetzen“, sagte Praveen Donthi von der International Crisis Group. In Pakistan gingen am Donnerstag Hunderte Menschen gegen die indischen Strafmaßnahmen auf die Straße. In Lahore rief ein Demonstrant, Indien dürfe „nicht mit dem Wasser unseres Volkes spielen“ – eine Anspielung auf die von Neu-Delhi angedrohten Eingriffe in das Wasserabkommen.
Ob es zu einem begrenzten militärischen Gegenschlag kommt oder ob Diplomatie im letzten Moment obsiegt, ist offen. Doch klar ist: Der Anschlag von Pahalgam hat den Konflikt zwischen Indien und Pakistan auf eine neue Eskalationsstufe gehoben.
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