Schicksal ungewiss

Vor WM: Rio “säubert” Stadt von Straßenkindern

Ausland
23.12.2013 10:51
Copacabana, der weltberühmte Strand von Rio der Janeiro. Für viele ein Sehnsuchtsort, dessen freizügiger Charme bis vor Kurzem mitunter durch die Präsenz bettelnder Straßenkinder gestört wurde. Wer Rio jedoch knapp vor der Fußball-WM 2014 und Olympia 2016 besucht, dem fällt auf, dass sie von hier und aus dem übrigen Straßenbild verschwunden sind. Durch brutale "Säuberungen", wie Kritiker meinen.

Einer davon ist Jan Daniels, Mitarbeiter bei der kirchlichen NGO AMAR, die sich seit 30 Jahren um das Los der Unterprivilegiertesten kümmert. Der Endvierziger stammt aus Belgien und lebt seit Anfang der 1990er-Jahre als Entwicklungshelfer in Brasilien. "Viele Touristen, die Rio von früher kennen, sagen: Gratulation, es gibt keine Straßenkinder mehr", erzählt Jan, um gleich darauf emotional zu werden: "Sie sind aber nur weggesperrt worden. In Gefängnisse. Roberto weiß das, er geht sie einmal pro Woche besuchen."

Roberto dos Passos ist gemeinsam mit Ordensschwester Adma Cassab ein Gründungsmitglied der NGO, die auch von der österreichischen Dreikönigsaktion unterstützt wird. Jeden Dienstag besucht Roberto eines der Gefängnisse, in dem diese Kinder eingesperrt werden. Dort sieht er dann, unter welchen Bedingungen sie festgehalten werden. "Das Kinderschutzgesetz in Brasilien sieht an sich vor, dass Kinder gut behandelt werden müssen, dass sie ein Recht auf gute Nahrung haben, dass ihnen ein Schulbesuch ermöglicht wird. Aber das ist Theorie, die Regierung von Rio macht das Gegenteil."

"Die Stadtregierung jagt Kinder, sie schlägt sie"
Auch Daniels ist auf die Behörden von Rio böse: "Die Stadtregierung jagt Kinder, sie schlägt sie, sie sperrt sie ein und macht damit nur die Straßen sauber. Sie sagen dann, bis Ende 2013 gibt es keine Straßenkinder mehr. Aber sie haben das Problem damit nicht gelöst."

Die "Säuberungen" werden in der Nacht in Spezialaktionen durchgeführt, berichtet Daniels aus eigener Erfahrung: "Ich war einmal undercover dabei. Sie wussten nicht, dass ich für eine Straßenkinderaktion arbeite. Es war ein Konvoi mit zehn Autos. Nur in einem davon saßen auch Sozialarbeiter." In den anderen neun Fahrzeugen saßen bewaffnete Einheiten, Polizisten und Soldaten. "Sie sperrten die Kinder in die Kombis. Solche Aktionen gibt es jede Nacht. Das ist ein spezieller Plan, unangenehme Leute einfach von der Bildfläche verschwinden zu lassen. Sie machen das ja nicht nur mit Kindern, sondern auch mit anderen Personen, die ihnen nicht passen. Mit Obdachlosen zum Beispiel."

"Wo sind die Kinder hin? Bringt sie jemand um?"
Zumal das Problem mit dem Einsperren auch nur die halbe Wahrheit ist, wie Daniels mutmaßt: "In den vergangenen zwei Dekaden sind über 90.000 Menschen verschwunden. Das sind fast 15 Menschen pro Tag. Die Hälfte davon sind Kinder. Und wir fragen uns, was mit ihnen passiert ist? Wo sind sie hin? Bringt sie jemand um? Wer? Und wo sind ihre Leichen?" Dabei will der Wahlbrasilianer aus Belgien nichts schönreden: "Es gibt viel Gewalt in den Favelas, innerhalb der Familien, auch sexuellen Missbrauch, Alkoholprobleme. Drogenbanden. Die schrecken auch vor Hinrichtungen nicht zurück."

Zumindest bezüglich der betroffenen Kinder gebe es aber "alternative Lösungsansätze". Wie die NGO AMAR eben, die sich den Slogan "Ganzheitliche Entwicklung von Kindern und Jugendlichen für ein volles Bürgerrecht" auf die Fahnen geheftet hat. Daniels: "Wir gehen auf die Straße, suchen den Kontakt und wollen das Vertrauen gewinnen, mit den Kindern Freundschaft schließen. Wir machen Spiele, Veranstaltungen. Wenn sie uns näher kennen, kommen sie auch von selbst zu uns, es gibt ein Tageszentrum mit sanitären Einrichtungen, medizinischer Betreuung, auch Freizeitgestaltungsmöglichkeiten. Sie können da etwa Fußballspielen. Es gibt pädagogische Programme, um die Kinder zu beschäftigen. Das ist besser, als wenn sie herumhängen und nichts machen."

"Erste-Welt-Infrastruktur nur in reichen Gegenden"
AMAR will die Kinder aber nicht unbedingt aus den Favelas herausholen. "Es soll auch ein Reintegrationsprozess gestartet werden. Wir bieten etwa Start-Up-Projekte an. Für Jugendliche, die arbeiten wollen." 15- oder 16-Jährige bekommen Mikrokredite, um ihr eigenes kleines Business zu starten. Einen Friseurladen oder einen Shop. Jeden Monat gibt es ein Treffen, wo über die Fortschritte sowie die jeweiligen Erfahrungen gesprochen wird.

Solche Projekte machen auch staatliche Versäumnisse wett, meint Daniels: "In Brasilien funktioniert das öffentliche Bildungs- und Gesundheitswesen nicht. So wird eine soziale Apartheid geschaffen." Dass Fußball-WM und Olympia daran etwas ändern werden, glaubt der Belgier nicht: "Dafür stellen sie eine Erste-Welt-Infrastruktur hin - aber nur in reichen Wohngegenden…"

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